Wo komme ich her? Wo gehe ich hin?

And the Winner is: Die Dokfestival-Gewinner im Deutschen und Nachwuchs-Wettbewerb stehen fest

Louisa im gleichnamigen Gewinnerfilm des Deutschen Wettbewerbs (Bilder: DOK Leipzig)

Die Gewinnerfilme im Deutschen Wettbewerb Dokumentarfilm und Nachwuchs-Wettbewerb Dokumentarfilm porträtieren zwei starke Persönlichkeiten, die sich nicht von angeblichen Lebensrealitäten unterkriegen lassen. Viele weitere Beiträge widmeten sich dem Thema Heimat und Herkunft zwischen Selbstvergewisserung und -hinterfragung, politischem Zwang und anything goes.

Ein „H“ für „hilflos“ kennzeichnet ihre angebliche Situierung in der Gesellschaft und dieses Wort könnte nicht weniger auf Louisa, die Besitzerin dieses Schwerbehindertenausweises und damit Trägerin eines Stigmas, zutreffen. Im diesjährigen Gewinnerfilm des Deutschen Wettbewerbs Louisa porträtiert die Regisseurin Katharina Pethke ihre gehörlose Schwester.

Nach jahrelangem Beharren, doch ein wenig hören zu können, blickt diese den Fakten ins Gesicht und sucht fragend und klug nach ihrer Identität inmitten von Gehörlosen, Hörenden und ihrer Familie.

Mit einer Kamera, die durch genaues Beobachten von Details Atmosphäre verdichtet und einem teils dumpfen Ton, welcher der Lebenswelt der Lippen lesenden Louisa ein wenig näher kommt, ist dies die Geschichte einer Emanzipation der selbstbewussten und schlagfertigen 23-Jährigen, die ihren ganz eigenen sinnlichen Reichtum bewusst annimmt. In diesem Punkt erinnert der Film an Thomas Riedelsheimers Touch the Sound über die gehörlose Musikerin Evelyn Glennie, welcher auf dem Dokfestival 2004 mit einer Goldenen Taube ausgezeichnet wurde.

Louisa indes hat ihre ganz eigene Herangehensweise. Sie trotzt ihrem Stigma und regt sich auf, dass bei der Untertitelung für Gehörlose im öffentlich-rechtlichen Fernsehen „Hurensohn“ mit „dummer Idiot“ übersetzt wird. Ihre individuelle Geschichte ist notgedrungen auch politisch. Sie will nicht in Watte gepackt werden, das braucht sie nicht. Ein wenig erstaunt es, dass Louisa die Jury neben den anderen starken und teils auch gewagteren Beiträgen am meisten überzeugt hat. Katharina Pethke ist nichtsdestotrotz mit diesem Abschlussfilm ein unaufdringlicher und persönlicher Beitrag gelungen.

„Life in Stills“, Gewinner des Nachwuchs-Wettbewerbs

Auch der Gewinner des Nachwuchs-Wettbewerbs Life in Stills rückt ungewöhnliche Personen in den Blick. Es ist wie ein Geschenk, die von der Israelin Tamar Tal eingefangenen Momente beobachten zu können. Der Film handelt von der außerordentlichen Beziehung der 96-jährigen Miriam Weissenstein zu deren Enkel Ben, die gemeinsam in Tel Aviv das renommierte Fotohaus des Großvaters weiterführen. Die Dame Miriam ist resolut, voll von unbemühtem spontanen Witz und ihr Urteil vernichtend, dass man über sie nur staunen kann.

Brüche werden hier von der Regisseurin wohl bedacht in den Blick genommen. Wenn der Enkel Ben fast an ihrem Starrsinn verzweifelt oder sie von manchmal zu viel Welt überfordert in der Ecke sitzt, werden verschiedene Schichten dieser Beziehung offengelegt. Darüber hinaus erfährt der Zuschauer nach und nach von einem schweren Familienschicksal und einem Kraft zehrenden Umbruch in ihren Leben. Dies alles wird von Tal äußerst sensibel beobachtet. Eingeflochten sind Fotografien des Großvaters Weissenstein, einer der wichtigen Chronisten des Staates Israels. Ein Film, der das Leben feiert, warmherzig und klug.

Heimat, Herkunft, Identität

Als ein Festival, das das Leben weltweit und seine Bedingungen einfängt und diskutiert, widmeten sich im Deutschen sowie im Nachwuchs-Wettbewerb einige Filme dem Thema Heimat, Herkunft und/oder der Frage, wie eine persönliche Identität in einer globalisierten Welt aussehen kann.

Man bastle sie sich erstmal selbst, sagt die Regisseurin Antje Engelmann, und nehme dazu allerlei Erinnerungen, die man soweit modelliert, bis sie sich gut anfühlen und die zu einem „Ich“ passen, das man gerne sein möchte. So weit, so gut. In ihrem „Ich-Film“ rekonstruiert sie in Anleitung, um die Vergangenheit zu ändern durch Videoaufnahmen und Fotografien der Familie ihre Vergangenheit und donauschwäbische Herkunft und reflektiert diese, in Abgrenzung zu ihren weiteren Familienmitgliedern und den vorherigen Generationen, kritisch und humorvoll. Filmeinspielungen von Heimatschinken zeigen, wie die Herkunft immer wieder für die Erzeugung eines wohlig warmen Gefühls herhalten muss. Die donauschwäbische Tradition der Urgroßeltern, die aus Ungarn vertrieben worden waren, wurde ihr schon als Kind im Trachtenverein in die Haare geflochten. Dass es noch extremere Exemplare gibt, wird klar, als sie in eine donauschwäbische Enklave nach Brasilien fährt. Und die sind donauschwäbischer als die Donauschwaben. Der Film arbeitet sich ein wenig zu sehr an den Unterschieden zwischen einer traditionsbewussten und einer postmodernen Lebensweise ab. Wenn dann so abgeklappert wird, was die Regisseurin will und nicht will, wie sie zu Heimat, Identität, Erinnerungen und Geschichte steht, ist das nachvollziehbar, aber auch wenig überraschend und manchmal, obschon der Leichtigkeit des Films, fast ein wenig altklug, oder sollte man besser sagen, neuklug?

„Eine Anleitung, um die Vergangenheit zu ändern“

Und wenn Antje Engelmann kein Haus bauen will, dann OG, die Protagonistin des Films My long distance friend, schon gar nicht. In ihrem Film verflicht die dänische Regisseurin Carina Molier (in Zusammenarbeit mit Maria Mok) das Portrait ihrer ruhelosen Freundin mit ihrer eigenen Lebensgeschichte. OG, ursprünglich aus Simbabwe ist nirgendwo auf der Welt zu Hause, eine Getriebene, die in den Clubs der Welt tanzt und feiert, mit unterschiedlichen Männern für gewisse Zeit lebt, weiter zieht. „Is she a rolling stone or a victim?“, fragt Molier in Bezug auf OG. Fasziniert von diesem kompromisslosen Leben erlebt der Zuschauer behutsam und ohne Urteil, dass hinter dieser Kosmopolitin eine fragile Person steckt, die nicht nur Heimat als Ort nicht kennt, sondern ihr auch als Gefühl fremd ist. OG kommt nirgends an und bricht immer wieder auf, obschon sie sich mehr und mehr ihrer eigenen Vergangenheit stellt.

Interessiert, das Leben von OG, ein wenig mehr verstehen zu können, befragt sich die Regisseurin auch selbst. Fotografien der Kindheit Moliers, dessen Vater selbst ein umtriebiger Weltenbummler war, illustrieren dies. Der Film besticht durch seine gelungene und durchdachte Komposition der Geschichte OGs und der Familie Moliers, die an einem Punkt im Film den genau umgekehrten Verlauf nehmen. Als OG sich ihrer in Simbabwe zurückgelassenen Tochter annähert, begreift Molier endgültig, dass die Beziehung ihrer Eltern weniger stabil ist als erhofft. Ein Film, der zu verstehen gibt, dass Sicherheiten im Leben nie verlässlich zu haben sind und der zeigt, dass das Motto „Home is where your heart is“ nicht so einfach gelebt werden kann, wenn man das Herz nicht verlässlich schlagen hört.

Deutsch = Ordnung; Ausländer = Unordnung?

In Werden Sie Deutscher wissen viele, wo sie leben wollen. Ob so genannte Zuwanderer dann aber auch die in den so genannten Integrationskursen suggerierte deutsche Identität annehmen wollen, steht auf einem anderen Blatt. Und ob einige unter ihnen von einer Duldung zur nächsten ausharrend, in Deutschland langfristig leben können ohne abgeschoben zu werden, ist unsicher. Heimat ungewiss. Der Regisseurin Britt Beyer sei recht schnell komische Potenzial es Überstülpens einer Identität aufgefallen und so nimmt sie diese „Integrationskurse““ unter die Lupe. Kursteilnehmer verschiedenster Länder lernen da, was eine beleidigte Leberwurst ist und hören, dass Zeit in Deutschland Geld ist und natürlich erst die Arbeit kommt, dann die Sause. Es tut gut, das hitzig diskutierte Thema Integration mal von dieser komischen Seite zu sehen – einer tragikkomischen. Denn in Wirklichkeit ist es ja traurig, wenn in den Sitzungen zur kulturellen Orientierung immer wieder durchscheint: Deutsch = Ordnung; Ausländer = Unordnung. Oder wenn Erwachsene, die eine neue Sprache lernen, oft wie hilflose Kleinkinder behandelt werden. Filmisch wirkten einige Szenen ein wenig gestellt, so als wüssten sie genau, was die Kamera von ihnen verlangt. Der Film zeigt aber zudem, wie unterschiedlich Lebenswelten „der Zuwanderer“ sind – eine offensichtliche Tatsache, die oft aber in der öffentlichen Diskussion vergessen wird.

„Werden Sie Deutscher“

Gemessen an der Explosionskraft des Themas war die Diskussion im Anschluss mit Britt Beyer enttäuschend moderat. Das mag auch daran liegen, dass neben der Regisseurin und zwei Kursteilnehmern auch Lehrer und ein Vorstand der Volkshochschule anwesend waren. Jeder hat sich so wohl vom anderen beobachtet gefühlt. Statt den Integrationsbegriff kritisch zu hinterfragen, wurde die Geduld der Lehrer mit den Teilnehmern gelobt. Eine Zuschauerin meinte im Anschluss – ein beliebter Kommentar – jetzt müssten doch auch die Deutschen so einen Kurs machen. Bloß nicht! Das macht’s auch nicht besser.

Von Geschichte durchtränkte Orte

Wenn auch einige Regisseure ihr Thema mit einer gewissen Leichtigkeit präsentieren, der neue Film von Bernhard Sallmann ist unglaublich schwer. Nachdem Sallmann Jahre lang in und um Berlin gedreht hatte – Filme wie Träume der Lausitz sind entstanden – kehrt er an seinen oberösterreichischen Heimatort zurück. Im neuen Film Das schlechte Feld wird schnell klar: Sallmann macht es den Zuschauern nicht leicht. In unglaublich langen Einstellungen filmt er die Tristesse des Ortes – Felder, Autobahnen, Häuser. Dazu eine nüchterne Stimme, die von der eigenen Kindheit und Ereignissen in Arnsfeld erzählt. Im Verlauf deckt der Film auf, wie der Ort Zeuge der nationalsozialistischen Vergangenheit war: der Bau der Autobahnen durch Zwangsarbeiter, der Todesmarsch der Juden, der durch Arnsfeld geführt hat. Wie Orte von Geschichte durchtränkt sind, zeigt Sallmann eindrücklich anhand dieser Originalschauplätze.

Was den exakt durchdachten Film jedoch zu sehr stört, sind die englischen Untertitel, die, so der Regisseur, absichtlich ins Bild integriert worden waren, um nicht am untersten Rand des Bildes zu kleben. Die Idee ist gut. Die Großbuchstaben erschlagen aber so sehr, dass es schwer wird dem Film zu folgen. Das Erzeugen von Unbehaglichkeit ist ihm zunächst gelungen. Die Untertitelung aber behindert die Eindrücke, die zwischen Sprache und Bildern in der Langsamkeit hätten entstehen können.

Und schließlich ist auch der Gewinner des in diesem Jahr erstmals verliehenen Dokumentarfilmpreises des Goethe-Instituts, Peak von Hannes Lang, eine kritische Betrachtung der eigenen Heimat zwischen Schneekanonen und Massentourismus. siehe Artikel vom 21. Oktober

Persönliche Fragen

Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Persönliche Fragen wie diese stellten sich in diesem Jahr zahlreiche Filmemacher. „Er kam aus dem Nichts und verschwand im Nichts“: Der Gewinner in der Kategorie Kurzer Dokumentarfilm, Kirkcaldy Man, geht letztlich auf die Suche nach einem ehemaligen Lokalhelden, den einstigen Dart-Weltmeisters Jocky Wilson und entwickelt sich zu einem traurigen Portrait eines verlassenen schottischen Landstrichs zwischen Arbeitslosigkeit, Pub und grauen Betonhäusern, in dem nicht viel zu holen ist. Wilson schließlich, alkohol- und lungenkrank, erscheint nicht vor der Kamera. Das von der Jury als lakonisch und nachdenklich gelobte Voice-over des Regisseurs Julian Schwanitz, das die Suche nach Wilson kommentiert, gerät zu pathetisch, die Melancholie zu erzwungen – Geschichte und Bilder sprechen für sich, etwas weniger betroffene Stimme und damit Stimmung, etwas weniger elegische Klaviereinspielungen von Max Richter, hätten gereicht, um diese an sich schon starken Aufbau des Films zu vermitteln.

Ein einwöchiges Festival ist zu Ende gegangen. Insgesamt bestachen die Filme auf dem 54. Dokfestival durch ihre Qualität und unterschiedlichen Ausdrucksweisen. Dem Festivaldirektor Claas Danielsen und seinem Team ist erneut ein Programm gelungen, das anregt, sich der Welt und gleichzeitig seiner selbst stärker bewusst zu werden.

54. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm

17. bis 23. Oktober 2011

www.dok-leipzig.de

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