Mehr als guter Ersatz

Semyon Bychkov springt für Christian Thielemann ein und dirigiert grandios

Semyon Bychkov (Foto: Thomas Kost / PR)

Christian Thielemann, der designierte Chef der Staatskapelle Dresden, dirigiert Bruckners Fünfte im Gewandhaus. Das hat Ereigniswert! Abgesprochen ist eine Kooperation zwischen Gewandhauskapellmeister Riccardo Chailly und ihm. Jeder dirigiert pro Saison einmal das Orchester des anderen. Und es soll mehr gereist werden zwischen Elbflorenz und Pleißathen. Das Ganze hat man vor Monaten medienwirksam verkündet. Und nun das: Ein Zettel im Programmheft, dass diese Kooperation aus „organisatorischen Gründen“ nicht realisiert werden wird. Hintergründe werden nicht genannt. Hört man sich aber intern um, so lässt das Ganze den Gewandhauskapellmeister bzw. dessen Agentur nicht so gut aussehen, wäre demnach Thielemanns Absage völlig verständlich.

Also musste man Ersatz für Thielemann finden. Und man fand in Semyon Bychkov einen wahrhaft guten Einspringer, der jedoch nicht Bruckner, sondern zwei seiner ausgesprochenen Repertoirestücke mitbrachte. Verklärte Nacht von Arnold Schönberg und Eine Alpensinfonie von Richard Strauss: auch ein beeindruckendes Programm. Nun also Verklärte Nacht in der Fassung für Streichorchester. Bychkov wählt die Wiener Aufstellung mit den Kontrabässen in der letzten Reihe, direkt dem Publikum gegenüber. Den gerühmten Gewandhausstreichern gelingt unter seiner eleganten Leitung (ohne Stab) eine zutiefst beseelte und technisch perfekte Wiedergabe. Die Soli sind absolut fantastisch und haben fast „Wiener Schlagobers“. Wie Frank Michael Erben (Konzertmeister) und Solobratscher Vincent Aucante dialogisieren, ist köstlich. Hier tritt der Vorteil zu Tage, dass beide seit Jahrzehnten im Gewandhaus-Quartett zusammen spielen, genauso wie Solocellist Jürnjakob Timm.

Semyon Bychkov legt Wert auf Transparenz und Klangfarbenreichtum und bekommt das alles fein abgestuft vom gut aufgelegten Gewandhausorchester geliefert. Das Tremolo der achtköpfigen Bassgruppe fährt einen fast an, während später zarteste Flautandi das Tor zum Paradies zu öffnen scheinen. Fantastisch, was diese Streicher können. Großer Beifall.

Die Alpensinfonie scheint in Leipzig ein beliebtes Einspringerstück zu sein. Zuletzt dirigierte sie Dmitrij Kitajenko für den erkrankten Sir André Previn im Jahr 2004 im Grossen Concert. Jetzt ist es Semyon Bychkov, dessen unglaubliche Aufführung des Werkes mit den Berliner Philharmonikern man im Internet bestaunen kann. Wer das kennt, hat also hohe bis höchste Erwartungen. Gleich am leisen Beginn des Werkes, wenn die Töne einer absteigenden g-Moll Tonleiter sämtlich liegen bleiben und sich zu einem zarten, dunklen Cluster stapeln, wird Bychkovs Ansatz deutlich. Er legt Strukturen frei, entschlackt den vermeintlich dicken Klangschinken und macht so Richard Strauss’ feinfühlige Orchestrierungskunst plastisch hörbar, aber auch seine teilweise unglaubliche Modernität. Wenn das volle Orchester dann zum „Sonnenaufgang“ bläst wird aber auch klar, dass hier mit großer Leidenschaft und Kraft musiziert wird.

Vergessen wir nicht, dass das Orchester gigantisch besetzt ist: vierfaches Holz, darunter Exoten wie das Heckelphon, eine Bassoboe die Strauss bei der Münchner Firma Heckel in Auftrag gab. Acht Hörner, davon auch vier Wagnertuben, vier Trompeten, drei Posaunen, Kontrabassposaune, Bass- und Kontrabasstuba, dazu zwei Pauker, drei Schlagzeuger (mit Windmaschine und hier ohne das vorgeschriebene Donnerblech!) und die majestätische Gewandhausorgel stehen einem großen Streicherapparat gegenüber.

Und wie schon Gustav Mahler in seiner Sinfonie der Tausend vermag es auch Richard Strauss, einer solchen Riesenbesetzung zarteste, ja kammermusikalische Momente zu entlocken. Das Ganze ist durchzogen von prägnanten Themen und einem logischen Motivgeflecht, was zu einer symphonischen Geschlossenheit führt, die vergessen lässt, dass hier eine Bergwanderung erzählt wird. Bychkovs Deutung geht auch darüber hinaus. Man ist derart auf das Bühnengeschehen fixiert, dass völlig egal ist, ob Nebel aufsteigen, die Sonne aufgeht, man auf dem Gipfel ist oder im Sturm. Das lässt sich alles direkt dem Leben, so wie es ist, andenken.

Es gibt Höhen und Tiefen, Jubel und Trauer, Aufbruchstimmung und Resignation. Ich hörte diese Alpensinfonie als absolute Musik. Denn so ist sie auch angelegt. Ein großer Komponist wie Strauss vermag mehr, als eine Bergwanderung in Klang zu setzen, noch dazu mit einem solchen Aufwand. Die dargebotene Aufführung bot zwar alle äußerlichen Effekte wie Herdengeläute, Jagdhornrufe hinter der Bühne und Windmaschine, aber es schien alles einer höheren Botschaft zu dienen. So geriet etwa die „Ruhe vor dem Sturm“ zu einer Art Angststarre. Die Musik schien still zu stehen, keine Bewegung mehr zu haben. Dann setzten langsam die kurzatmigen Nadelstichtöne der Oboe, die Schreie der gedämpften Trompeten und die panischen Triller der Klarinetten ein, um sich mehr und mehr aufzutürmen, bis dann der „Sturm“ völlig ausbricht. Das Gewandhausorchester spielt mit einer derart hohen Phonzahl, dass man förmlich in den Sitz gepresst wird. Auch dank der Präzision des Schlagwerks ist jeder Impuls nicht nur Zählzeit in einem Takt, es ist ein Schlag ins Gesicht, in den Magen. Dieser Sturm ist kein Wetterumschwung im Gebirge, er wird zu einer sehr persönlichen Katastrophe, die in Nachwehen und Erschöpfung abebbt. Was bleibt ist ein feierlicher Choral im Blech und Orgel, der derart intim und ehrlich klingt, dass er wohl jedem im Saale nahegeht. Da tut es auch kaum weh, dass nach dem brutalen „Sturm“-Tutti die Intonation im gesamten Holzbläsersatz und in Teilen des Blechs wackelt. Das macht es fast noch menschlicher. Und nachdem die wiederkehrende Nebelstimmung des Anfangs nicht wieder zum Sonnenaufgang sondern in dunkle, nächtliche Klänge der Posaunen und Wagnertuben überleiten, um dann das Stück leise verklingen zu lassen ist klar, dass dies weitaus mehr als nur Programmmusik war. Es braucht eine Zeit des Innehaltens sowohl am Donnerstag als auch am Freitag, ehe der Jubel losbricht.

Semyon Bychkov dirigierte diese Alpensinfonie als „Episoden aus dem Leben eines Menschen“, um den Untertitel der Berlioz’schen Symphonie fantastique leicht zu verändern, die neben Beethovens Pastorale ja als erste Programmsinfonie gelten darf.

Das war nicht nur überzeugend. Es hatte eine unglaubliche Erlebnisfähigkeit und versetzte das Publikum des, leider wieder bei weitem nicht vollen, Gewandhauses in Jubelstürme und Hochstimmung. Im Vergleich mit der erwähnten Aufführung der Berliner Philharmoniker, ebenfalls unter Bychkov, reicht das Gewandhausorchester dann technisch doch nicht ganz heran. Da ist der Posaunensatz nicht knackig genug, brauchen die Akkorde zu lange, vor allem wegen der Kontrabassposaune, ehe sie erkennbar sind, überstrahlt die erste Trompete eben nicht als Krone des Orchesters alle anderen. Dies sind aber nur kleine Meriten, die den Gesamteindruck nicht schmälern konnten, was definitiv auch anders hätte sein können. In Sachen Emphase sind die beiden Konzerte jedoch absolut auf Augenhöhe, ist die Aufführung der „Verklärten Nacht“, die man ebenfalls mit den Berlinern unter Bychkov nachsehen kann, noch innerlicher und farbenreicher, samtiger im Klang.

Dies war also ein mehr als würdevoller Ersatz für Christian Thielemann und es ließ die ärgerlicher weise gescheiterte Kooperation zwischen Dresden und Leipzig, zwischen Christian Thielemann und Riccardo Chailly für mehr als nur einen Augenblick vergessen.

Grosses Concert

Arnold Schönberg: Verklärte Nacht

Richard Strauss: Eine Alpensinfonie

Gewandhausorchester

Dirigent: Semyon Bychkov

19. Januar 2012, Gewandhaus, Großer Saal


Ein Kommentar anzeigen

  1. Der Solobratscher war nicht Olaf Hallmann, sondern Vincent Aucante, seit dieser Spielzeit 1. Solobratscher des Gewandhausorchesters. Er war bis zum Sommer 2011 in gleicher Position in meiner Heimat, bei den Münchner Philharmonikern engagiert.

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