„Wenn es mir nicht gelingt, das Wichtigste über sie zu sagen…“

Teilhabe an der Entstehung einer Fiktion: Sofia Flesch Baldin präsentiert im Lofft die szenische Lesung „Nachdenken über Christa T.“

Sofia Flesch Baldin (Fotos: Thomas Puschmann)

Das Ringen um Wahrheit und Erinnerung, der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft sind Themen, die Christa Wolfs gesamtes Werk durchziehen. Dies gilt auch für ihren 1968 erschienenen Roman Nachdenken über Christa T., den Sofia Flesch Baldin am 21. Mai 2012 im Lofft in einer atmosphärisch sehr dichten Lesung präsentierte.

Die Sprecherin Sofia Flesch Baldin nimmt an einem kleinen Holztisch mit Wasserglas Platz und beginnt zu lesen. Wer ist Christa T. „Wo kam sie her?“ Im Hintergrund die Projektion eines dunklen Waldes. Schon zu Beginn wird klar: „Sie kam und ging … mehr lässt sich über sie nicht sagen.“ Hier steht eine Stimme im Raum, die sich polyperspektivisch auf die ihr noch im Gedächtnis gebliebenen Szenen mit der Freundin Christa T. und die ihr zur Verfügung stehenden Tagebuchseiten beschränkt, wohlwissend darüber, dass ihre Auseinandersetzung immer Fragment bleiben wird. Christa Wolf brach in diesem Text mit dem sozialistischen Realismus und der in der DDR zu dieser Zeit vorherrschenden Perspektive des allwissenden Erzählers. Ihr Text basiert daher eher auf dem Verfahren psychologischer Einfühlung und entsteht nicht aus der Sicherheit heraus ideologisch wissend Realität abzubilden. Auch wenn man meint, sich Christa Wolf und ihren Texten ohne den Zeitbezug zur DDR kaum nähern zu können – die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus bleibt bis in ihr Spätwerk eins ihrer wichtigsten Themen präsentiert sich diese szenische Lesung bewusst ohne einen visuell gesetzten zeitgeschichtlichen Hintergrund. Der Roman ist der Versuch den Lebensweg einer jungen Frau zu rekonstruieren, die darum kämpft in der Gesellschaft ihre Individualität vor Entfremdung zu bewahren, und letzen Endes daran scheitert. Ihr Scheitern, ihr Unglück steht für die Berechtigung auf Selbstverwirklichung und individuellem Glück, dem „langen nicht enden wollenden Weg zu sich selbst.“ Durch das eigene Schreiben erhielt die Protagonistin Christa T. Trost. Die intelligente Strichfassung der Lesung enthält auch die Stelle des Romans, an der Christa T. der Erzählerin ihre Abneigung gegenüber allem „Ungeformten“ verrät. Sprache und Dichten, vielleicht auch im Sinne von Abdichten, sich schützen, konnten ihr anscheinend helfen die Schwierigkeiten ihrer Existenz zu bewältigen. Schreiben, nicht nur einer Biographie zwischen Fiktion und Wahrheit, sondern auch als anthropologische Grundkonstante. Die Auseinandersetzung mit der Selbstwerdung spiegelt auch die Intimität vermittelnde Präsentation des Textes der Sprecherin Sofia Flesch Baldins, die ein hohes Identifikationspotenzial für den Zuhörer und Zuschauer bereitgestellt.

Sofia Flesch Baldin studierte Sprechkunst und Sprecherziehung in Stuttgart und St. Petersburg. Der Einsatz ihrer Stimme ist weich, gelenkig und flexibel. Zu Beginn wird erzählt wie Christa T. als Jugendliche „trompeten“ konnte, indem sie die Hände vor den Mund legte und Freudenschreie ausstieß, „Hat der Mensch Töne!“ An vielen Stellen des Textes sendet Sofia Flesch Baldins Blick konkret ins Publikum, organisch gehen an anderen Stellen ihre Arme mit. Dabei geraten Bewegungen und Stimme jedoch nie in eine theatralische Manier, etwa gestikulierend einen Sinn verdoppelnd. Wenn die Erzählerin des Romans hier retrospektiv schildert, wie sehr sie sich einst wünschte, es Christa T. gleichzutun und solche Töne hervorbringen zu können, spürt man die leise Bewunderung in der Stimme. Man spürt aber auch den vielleicht in der Reflexion über Christa T. vorsichtiger gewordenen Zuspruch der Erzählerin zu ihrer Person und ihrem Erleben. Die leise Skepsis gegenüber dem Erlebnis und der eigenen Erinnerung lässt sich dabei als subtiler Unterton in Baldins Stimme beschreiben, eine Bewegung der Stimme, die sich behutsam bewundernd anschmiegt und im Wort mitschwingt. Hier schafft die Sprecherin des Textes immer wieder Momente, die über das Ziel einer klar verständlichen Botschaft hinausgehen. Die Materialität der Stimme drängt den Sinn regelmäßig für Momente zur Seite oder lässt ihn in den Hintergrund treten. Gelungen durch den physisch-direkten Ausdruck der Stimme wird hier eine Brücke zwischen Körper und Sprache geschaffen. Sie streichelt, reißt auf, nähert sich an, entfernt sich und kreist nicht nur um die Reste und Materialien der Erinnerung, um Christa T., sondern auch um und im Ohr des Zuhörers. Im Auftritt von Baldins Stimme wird das Potenzial des gesprochenen Wortes und die Chance, einen Text laut vorzutragen und zu hören, deutlich. Wenn man so will, kann der Auftritt ihrer Stimme daher auch als das szenische und das Ereignis dieser Lesung gesehen werden.

Im Hintergrund läuft eine permanente Videoprojektion: Zuerst eine Aufnahme eines dunkeln Himmels, der hinter hochgewachsenen Nadelbäumen hervorragt, vielleicht der im Buch auf der ersten Seite erwähnte „mecklenburgische Himmel“, unter dem Christa T., „einen Meter Erde über sich“, liegt. Dann etwas später erscheint ein abgestellter Kombi, der mit seinen auf die Landschaft gerichteten Scheinwerfern wenig Licht in die hereinbrechende Dunkelheit bringt. Für den Rest der Lesung wird schwarze und weiße Farbe, die endlos verläuft, auf den Hintergrund projiziert. Man meint einzelne Buchstaben oder Zeichen herauslesen zu können, die sofort wieder verschwimmen. Bilder, die aus der Erinnerung der Erzählerin stammen könnten oder aus dem unsortierten Material in Christa T.s Hinterlassenschaften. Aus dem Vor- und Zurückblenden der Erzählerin, dem Kreisen um die Protagonistin entstehen auch beim Zuschauer möglicherweise ein Netz aus Bildern und Assoziationsketten. Man ist versucht mit diesem Netz Christa T. irgendwie einzufangen, wenigstens ein vages Bild von ihr zu erhaschen. Doch sind diese Bilder mehr als vage Assoziationen? Sehr lose sind ihre Pfade zum dichten Gewebe und der herausfordernden Erzählstruktur des Textes gelegt, so dass sie Gefahr laufen, flacher Hintergrund statt gleichberechtigtes Element der szenischen Präsentation zu werden. Hier liegt vielleicht die Gefahr der Bilder, von Sprecherin und dem Text abzulenken. Man muss sich die Frage stellen, was an dieser Lesung szenisch ist, außer der sicherlich über den soliden Vortrag eines literarischen Textes weit hinausgehenden Präsentation von Sofia Flesch Baldin und den Szenerien, die sich im Kopf der Zuhörenden abspielen mögen. Dann aber doch im ersten Drittel ein Bild, was einen neuen Raum und eine neue Ebene zum Text eröffnet. Ein Mann steht im Wald und gräbt: Gräbt er, um etwas zu verscharren oder zu begraben? Oder ist es die gegensätzliche Bewegung des Ausgrabens und Freilegens? Plötzlich hat man das Gefühl, es bedarf der Projektionen. An dieser Stelle gehen die Bilder über den dunklen etwas beklemmenden Hintergrund, vor dem das Nachdenken über Christa T. sich abspielt, hinaus. Sie stehen in Zusammenhang mit der Suchbewegung im Fragmentarischen des Textes: Erinnern, Verarbeiten, Eingraben und wieder Ausgraben… Hier verbinden die Bilder sich für einen Augenblick mit der Geste des Textes. Wer wird hier gesucht? Wer war Christa T.? Wie nähern wir uns ihr?

Auch der Zuhörer wird hier zum Suchenden, der die Fragmente für sich zusammenfügen muss. Was hier geschrieben, erzählt und vorgetragen wird, ist immer mit Vorsicht zu genießen und erhebt nie den Anspruch, die Geschichte oder die abschließende Wahrheit über Christa T. zu sein. Es bleibt die kreisende Bewegung, das, was von außen herangetragen wird. Die Erzählerin sowie die geforderten Zuhörer graben zusammen in den vorgetragenen Materialien und imaginieren die fehlenden Teile hinzu – „Ich bekenne mich zur Freiheit und zur Pflicht des Erfindens.“ Was dabei herauskommt, ist nie der Kern der Identität oder die vollständige Rekonstruktion der Christa T.. Kein Kern einer Figur, von der ausgegangen werden könnte oder bei dem man enden wird. So sehr man sich bemüht die Fakten zusammen zu tragen und zu ordnen, zurück bleibt ein Stück Negativität, die abwesende Christa T.

„Ach, hätte ich die schöne freie Wahl erfundener Eindeutigkeit…“

„Nachdenken über Christa T.“

Mit: Sofia Flesch Baldin

Konzeptionelle Mitarbeit: Juliane Zöllner

Eine Produktion von Sofia Flesch Baldin in Zusammenarbeit mit Werkstattmacher e.V. und LOFFT.Leipzig.Sofia Flesch Baldin

21. Mai 2012, Lofft


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