„Es gibt kaum etwas Unheimlicheres als Familiengeheimnisse“

Interview mit der katalanischen Regisseurin Isabel Coixet über ihre Romanverfilmung „Another Me“

Mit „Mein Leben ohne mich“ gelang Regisseurin Isabel Coixet 2003 der Durchbruch − hier bei Dreharbeiten zu dem Film. Coixet erzählt darin vom Umgang einer jungen Mutter mit ihrem bevorstehenden, krankheitsbedingten Tod. (Fotos: Studio/Produktion)

Nach international erfolgreichen Dramen wie Mein Leben ohne mich und Invisibles hat sich die spanische Regisseurin Isabel Coixet mit ihrem aktuellen Projekt Another Me einer düsteren Angelegenheit zugewandt: der Verfilmung eines dunklen Romans, der von der Teenagerin Fay und ihren mysteriösen Entdeckungen in der eigenen Familie handelt. Mit Leipzig-Almanach-Autorin Sima Moussamian hat sie über ihre Sequel-Gedanken, die Dreharbeiten zu Another Me und ihre Faszination für Oscar-Preisträger Ben Kingsley gesprochen, mit dem sie gerade zum zweiten Mal zusammenarbeitet.


Leipzig-Almanach: Welche Aspekte des Romans waren Ihnen besonders wichtig und warum?

Isabel Coixet: Ich hatte eine Freundin, die mit Zwillingen schwanger war. Die Ärzte sagten ihr eines Tages, dass eines ihrer Babys sterben müsse, damit das Zweite überleben könne. Der größte Wunsch meiner Freundin war es immer, ein Kind zu haben. Sie tat also, was die Ärzte ihr geraten hatten. Wenn ich mich heute mit ihr darüber unterhalte, dann erzählt sie oft, dass auch sie eine Präsenz spüren kann. Sie nimmt diese Präsenz aber nicht als etwas Unheimliches, sondern eher als etwas sehr Natürliches war. Meine Affinität zu der Geschichte des Romans war also vorhanden, und wir behielten diesen Aspekt des Buches bei. Auch viele der Schuldthematiken haben wir beibehalten. Ich wollte mit dem Film vor allem die Opposition von Nähe und Distanz erforschen, die in der Story angelegt ist. Diese drei Menschen sitzen in einem kleinen Apartment regelrecht aufeinander, aber sie sind sich trotzdem weit entfernt. Diesen Aspekt fand ich sehr interessant.

Wieso sind Sie den Film als Thriller angegangen und nicht etwa als Drama?

Ich war gelangweilt von der ständigen Frage, warum ich immer an Dramenproduktionen beteiligt bin (lacht). Nein, aber ich fühle mich zur Zeit zum Unbekannten hingezogen. Für mich geht es beim Filmemachen darum, neue Welten zu entdecken, dazu zu lernen und ins Leben Anderer einzutauchen. Deshalb finde ich es wichtig, die eigenen Arbeitsgewohnheiten zuweilen zu verlassen und mit ihnen zu brechen. Im Stoff von Another Me habe ich großes Potenzial gesehen genau das zu tun, indem ich einen Psychothriller anlege. Wir haben ja keinen wirklichen Horrorfilm gemacht, aber ein unheimlicher Film ist es durchaus.

Was finden Sie persönlich unheimlich?

Ich finde tatsächlich, dass es kaum etwas Unheimlicheres gibt als Familiengeheimnisse. Solche Geheimnisse gibt es in jeder Familie ― vielleicht ist es nicht immer ein so düsteres wie in Another Me, aber auf irgendetwas stößt man immer. Vielleicht hat ein Großvater Selbstmord begangen oder Ähnliches und die Eltern verheimlichen es einem. Wenn etwas verheimlicht wird, stellt man sich automatisch die Frage, wieso jemand die Wahrheit verbergen wollen könnte, und das lässt einen immer mit einem unbehaglichen Gefühl zurück.

Wie sah Ihr Castingprozess zu „Another Me“ aus?

Wir haben in mehreren Städten und Ländern gecastet. Von Sophie Turner war ich sofort begeistert, weil sie alles hat, das man als Schauspielerin haben sollte. Sie ist brillant, aber sie nimmt sich selbst nicht zu ernst. Die meisten Menschen mit ihrem Talent haben ein sehr großes Ego, und mit ihnen zu arbeiten macht keinen Spaß. Mir ist als Regisseurin aber sehr wichtig, dass die Leute Spaß am Drehen haben. Sophie hatte das, und das war für mich entscheidend. Ich habe erst davon erfahren, dass sie an Game Of Thrones mitgewirkt hat, als ich mich längst für sie entschieden hatte, und auch als ich es dann wusste, blieb es für mich irrelevant. Auch abgesehen von Sophie war ich von Anfang an von meinem Cast begeistert. Jonathan Rhys Meyers kann zum Beispiel wahnsinnig gut mit Kindern. Er hat sich am Set liebevoll um die Kleinen gekümmert, und wir waren sehr froh, dass er da war, weil wir jemanden gebraucht haben, der die Kinder versorgt. Von Rhys Ifans Arbeit war ich schon immer begeistert, und Claire Forlani kannte ich schon von einem Casting für einen meiner anderen Filme. Ich fand immer, dass sie eine unterschätzte Schauspielerin ist und war froh, sie für Another Me gewonnen zu haben.

Hätte „Another Me“ auch funktioniert, wenn ein Junge im Mittelpunkt der Handlung gestanden hätte?

Nein, das glaube ich nicht. Mädchen und Jungen sind während der Pubertät sehr verschieden. Ein Junge würde all die Ereignisse des Films nicht so ernst nehmen wie ein Mädchen ― er würde sich von seinen Eltern loslösen und mit seinen Freunden feiern gehen. Mädchen nehmen die Dinge in der Pubertät dagegen sehr empfindlich auf. Ich habe selbst eine 15-jährige Tochter und kenne das gut. Meine Freunde fragen mich oft, warum sie immer so abwertend reagiert, aber ich kann damit umgehen. Sie ist in der Pubertät, da hasst man seine Eltern nun mal (lacht).

Sophie Turner (hier in der Serie „Game Of Thrones“) spielt in „Another Me“ die Teenagerin Fay.

Wie waren Sie als Teenager?

Ich hatte pinke Strähnen im Haar, war ein typischer Punk und wollte damals schon Regisseurin werden. Ich musste rebellieren, denn ich bin unter einer Diktatur aufgewachsen. Erst als ich 15 war, starb Franco. Mein Vater war Kommunist, und die Polizei stand fast täglich vor unserer Tür, sodass auch ich irgendwann etwas gegen das Regime unternehmen wollte. Ich denke, das erklärt meine Rebellion als Teenager.

Wie hat sich Film verändert, seit Sie Teenager waren?

Meine Generation ist von Filmen geprägt worden. Filme hatten einen unglaublichen Einfluss auf die Menschen. Heute ist das anders, weil kaum jemand sich mehr auf Filme einlässt. Filme erfordern aber genau das. Ich war vor Kurzem in einem Vorab-Screening von Gravity, und die Hälfte der Leute hat die ganze Zeit nur auf das Handy getippt. Das fand ich respektlos. Wenn man sich nicht auf einen Film konzentriert, sondern lieber mit der Frau bespricht, was es am Abend zu essen gibt, dann kann man sich gar nicht mit dem Werk identifizieren.

Wie würde ein Sequel zu „Another Me“ aussehen?

Ich mag Sequels grundsätzlich nicht, aber hier würde es genau zwei Möglichkeiten geben: Entweder, die Familie würde ihr alltägliches Leben mit der übernatürlichen Präsenz darin weiterführen, oder das Böse würde siegen. Ich würde eher zu Zweiterem neigen und Fay auf die dunkle Seite schicken. Das Böse existiert in dieser Welt, und es ist stark. Man muss sich nur George Bush ansehen: Millionen von Menschen sind wegen ihm gestorben. Ich finde es wichtig, mit Filmen darauf aufmerksam zu machen, dass es das Böse dort draußen gibt.

Wollen Sie mit vielen Ihrer Filme politische und soziale Missstände anprangern?

Ich möchte Situationen darstellen. Ich bin keine Politikerin und habe auch keine großartigen Theorien oder Lösungsvorschläge, aber ich kann eine Aufnahme von der Welt machen, wie sie ist. Filmen sollten meiner Meinung nach durchaus politische und soziale Missstände abbilden, weil ich hoffe, dass andere über die Erkenntnis, dass es bestimmte Missstände gibt, vielleicht dazu inspiriert werden, eine Lösung zu entwickeln.

An welchem Projekt arbeiten Sie momentan?

Ich habe mit Ben Kingsley Learning To Drive abgedreht. Es geht darin um eine verwöhnte New Yorkerin, die von ihrem Mann verlassen wird und daraufhin den Führerschein machen möchte. Sie schließt dabei Freundschaft mit ihrem Fahrlehrer, der sie immer wieder zurück auf den Teppich holen muss und viel Geduld mit ihr hat.

Wie ist die Zusammenarbeit mit Ben Kingsley?

Dieser Film ist unser zweites, gemeinsames Projekt. Ben ist ein brillianter Schauspieler mit einer einmaligen Energie. Wir haben zuvor Gandhi gedreht, und in dem Tempel, in dem wir gefilmt haben, denken die Menschen bis heute, dass Ben Gandhi ist (lacht). Er war zuvor kein einziges Mal in Indien und konnte kein Wort indisch, aber er kann einfach alles spielen und taucht vollständig in die Welt seiner Figuren ein. Er umgibt sich mit denselben Menschen wie seine Charaktere und übernimmt von Gestik bis Redeweise einfach alles.

Was an Ihrem Beruf lieben Sie besonders, und auf was könnten Sie auch verzichten?

Ich liebe die Arbeit auf dem Set, und ich liebe Überraschungen. Ich bereite mich auf jeden Drehtag gut vor und habe jede Szene genau im Kopf, aber ich lasse mir gerne die Realität dazwischen kommen. Manchmal muss man einfach improvisieren, weil das Konstrukt im eigenen Kopf in Wirklichkeit nicht funktioniert. Alle Pläne für die Realität aufzugeben, ist das Allerschönste. Als das Schlimmste an meinem Beruf empfinde ich es demgegenüber, wenn mir jemand sagt, wie ich meine Arbeit zu machen habe. Manche Regisseure können bewundernswert gut mit Einmischung von Dritten umgehen, aber ich kann es nicht und raste eher darüber aus, anstatt höflich zu nicken.

Welche Überraschungen haben Sie während des Drehs von „Another Me“ erlebt?

Ich habe Sophie Turner erwachsen werden sehen. Als wir mit den Dreharbeiten begonnen haben, war sie mit ihren 16 Jahren noch ein Kind, aber als die letzte Klappe fiel, war sie eine starke und erwachsene Frau. Das habe ich nicht erwartet, und ich war sehr gerührt von ihrer Entwicklung.

Another Me

Spanien/Großbritannien 2013

Regie: Isabel Coixet; Darsteller: Geraldine Chaplin, Jonathan Rhys Meyers, Sophie Turner

Voraussichtlicher deutscher Kinostart: 26. Juni 2014


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