Die Stille im Saal ist lauter als sonst

Das Gewandhaus versucht mit der „Audio Invasion“ Pop, Klassik und elektronische Musik zusammenzubringen. Aber zwischen Theorie und Praxis bleibt eine tiefe Kluft

Fotos: Emotion Works

In der Theorie vermag das Konzept der Audio Invasion zu vielerlei hoffnungsvollen Interpretationen zu verleiten. So könnte man glauben, das Gewandhaus, als Leipziger Institution der „Ernsthaften Musik“, lädt die „Unterhaltungsmusik“ zum gemeinsamen Tanz. Ein Diskurs zwischen verhärteten Fronten, neue Blickwinkel auf den Musikkosmos für eine Pop-sozialisierte Jugend – vieles scheint denkbar. Ein nüchterner Besuch der Veranstaltung zeigte ohne großes Erstaunen: Die Praxis sieht anders aus.

Um Viertel vor zehn rennen Scharen die grell-blau beleuchteten Treppenaufgänge zum großen Saal hinauf. Sie kehren um, eilen zurück, verlaufen sich, sprechen laut. Das für zehn angesetzte Stück beginnt um Viertel nach, das Gemurmel im Saal ist lauter als das Einstimmen des Orchesters. Die Stimmung ist gut. Heute gehört sich im Gewandhaus gar nichts.

Das große Konzert eröffnet wie üblich die Audio Invasion: Benjamin Brittens „A Young Person’s Guide To The Orchestra“, gefolgt vom Konzert für Klavier und Orchester op 13 mit Jung-Pianistenstar Benjamin Grosvenor am Flügel bilden den Auftakt zu einem dichten Abend-Line-Up. Dirigent Andrew Manze erweist sich mit warmherzigem britischen Humor als Brückenbauer. Einleitend versucht er etwas über die Stücke zu sagen, hebt kurz an zu erläutern, dass es vier Sätze gebe – und fasst dann doch lieber schnell zusammen: „Of course, you clap whenever you like!“ Mit Fußballwitzen ergattert er endgültig jede Sympathie.

Die Stille im Saal ist lauter als sonst, der Applaus dafür auch. Auf den Rängen hallt Pfeifen und Johlen wider. Die Brüche mit der Etikette des Hauses kreieren einen schönen, eigenen Flair.

Schade ist, dass die Hintergründe zu Brittens Komposition nicht deutlicher werden – das Informationsblatt segelt unauffällig von den Sitzen und wäre wohl auch ob seines musikwissenschaftlich-analytischen Stils für die Publikumsmehrheit nicht unbedingt zugänglich gewesen. Dabei ist „A Young Person’s Guide To The Orchestra“, das in dem liebevoll-kindlichen Gestus des Komponisten wie beiläufig alle Gruppen des Orchesters vorstellt, für die Veranstaltung wie geschaffen. Schließlich war es Brittens Versuch, unerfahrene Ohren in die Orchestermusik einzuführen. Zudem verarbeitet er darin ein Thema des Barockkomponisten Henry Purcell, den er sehr verehrte. Ist dies nicht ein Prinzip, dass Technofreunden bekannt vorkommen sollte?

Mit dem Schritt aus dem großen Saal hinaus verschmelzen E- und U-Musik auf der Stelle. Treibende synthetische Rhythmen jagen jäh das Orchester aus dem Kopf, die Massen schieben sich stoisch ins mittlerweile gut gefüllte Hauptfoyer hinab. Das Programm läuft nun Schlag auf Schlag ab, Unterbrechungen ausgeschlossen. Die Spannweite reicht von Pop bis Techno: Discopop des erfolreichen Newcomers Roosevelt aus Köln, Synthiepop der Schwedin Oh Land, bekannte Namen der Leipziger Elektroszene wie Filburt und Lake People. Kele Okereke, vielen als der Sänger von Bloc Party in Erinnerung, lugt im Nebel über das DJ-Pult im Mendelssohn-Foyer, bevor Glasgows Produzentenwunderkind Hudson Mohawke alle Genres durcheinander bringt. Kräftige Bassschwälle schlagen dubstep-artig aus den Boxen, Ravestimmung kommt auf, dann klingt ein feingliedriger Four Tet Remix durch. Zum Ende spielt er „Indecision“, einen ruhigeren Track von Sampha, gelassen bis zum Ende aus.

Mancher erkennt Four Tet im Remix und freut sich darüber, alle lieben die Dynamik des Aufgreifens und Weiterverarbeitens in der elektronischen Musik. Das Prinzip des Samples ist völlig gewöhnlich. Aber was sind Variationen zu einem Thema? Kann man sich vorstellen, dass ein Purcell-Fan im Großen Saal sitzt und Benjamin Brittens Stück bejubelt, weil er Purcells Originalmelodien erkennt? Zugegeben, der Gedanke erscheint etwas merkwürdig.

Es ist eng, es ist voll. Die meisten scheinen sich daran wenig zu stören und tanzen, haben Spaß. Die Audio Invasion funktioniert als technozentrierte Großveranstaltung wunderbar und ohnehin für alle, die sich damit zufrieden geben, eine „coole“ Party in einer ungewöhnlichen Location zu ihren Facebookposts hinzufügen zu können.

Was nicht stattfindet, ist der Dialog, auf den das Konzept in der Theorie hoffen ließ. Ein Diskurs lässt sich hier nirgends feststellen – dazu ist es in der Rundumbeschallung auch zu laut.

Jägermeisterstände stehen dem Gewandhaus nicht, Techno eigentlich schon. Es ist schade, dass aus der Audio Invasion nicht mehr herausgeholt wird. Wie spannend wäre es, den gesamten Abend parallel klassische Werke im großen Saal hören zu können, oder gar noch etwas aus der Neuen Musik, um die Brücke zur Elektronik zu verdeutlichen. Wie bereichernd hätte es gewirkt, ruhigere Zonen zu haben, in denen man sitzen und sich austauschen kann, vielleicht sogar mit den so unterschiedlichen Künstlern. Und dazu tanzen, jeder wie er möchte. Die Theorie wäre in der Praxis sehr schön gewesen.

Audio Invasion

Gewandhaus, 23. November 2013

www.audio-invasion.de

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