Im Banne des Lagerfluchs

In Christian Schwochows „Westen“ werden DDR-Flüchtlinge in einem BRD-Auffanglager mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Nur die Zuschauer müssen draußen bleiben

Sie wollen raus aus der DDR: die Chemikerin Nelly Senff (Jördis Triebel) und ihr Sohn Alexej (Tristan Göbel), Foto: Senator

Innerhalb des deutschen Kinos haben sich in den letzten Jahren einige Regisseure herauskristallisiert, deren Namen durchaus mit gewissen hohen Erwartungshaltungen verknüpft werden. Andreas Dresen und natürlich Christian Petzold wären hier zu nennen. Christian Schwochow hat sich durchaus ebenfalls einen solchen Ruf erarbeitet. Mit Novemberkind gab er ein hochgelobtes Debüt, und seine Verfilmung von Uwe Tellkamps Der Turm gehört sicherlich zu den positiven Ausnahmen der sonst eher enttäuschenden TV-Produktionen. Gehört Westen also bereits jetzt zu den deutschen Kinohighlights 2014? Die Antwort ist, wie so oft, ein klares „Jein!“

Die junge, promovierte Chemikerin Nelly Senff (Jördis Triebel) entschließt sich, mit ihrem Sohn Alexej (Tristan Göbel) aus der DDR auszuwandern, nachdem ihr Freund vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam. Nach der erfolgreichen Ausreise muss sie jedoch schnell feststellen, dass sich ihre Vergangenheit nicht so schnell abschütteln lässt und sie durch die Sicherdienste der Allierten mit ähnlichen Fragen konfrontiert wird, wie durch die Stasi. Schnell dominieren Misstrauen und Angst die Szenerie. Spitzel lauern scheinbar überall, und auch der stille und doch freundliche Hans (Alexander Scheer) könnte einer von ihnen sein.

Westen basiert lose auf dem Roman Lagerfeuer, in dem die Autorin Julia Franck teilweise eigene Erfahrungen aus einem BRD-Auffanglager für DDR-Flüchtlinge verarbeitet. Diese Authentizität strahlt der Film auch in jeder Szene aus. Die Schilderung des Lageralltags mit seinen kleinen Routinen und bürokratischen Widersprüchen entfaltet relativ schnell einen starken Sog. Dazu tragen natürlich auch die Schauspieler bei, die in reduzierten Dialogen präzise mit kleinsten Gesten und Gesichtsrührungen arbeiten. Herz des Films ist dabei die Beziehung zwischen Alexej und Nelly. Anfangs bildet die Liebe zwischen Mutter und Sohn das starke Band in der von Misstrauen vergifteten Atmosphäre. Doch als sich Nelly immer weiter in ihrer Angst verliert, scheint auch die Beziehung der beiden daran zu zerbrechen. Dabei stiehlt der junge Tristan Göbel mit seiner Präsenz und der unaufdringlichen Glaubwürdigkeit, mit der er alle emotionalen Facetten seinen Charakters auf die Leinwand bringt, teilweise den älteren, prominenten SchauspielerkollegInnen die Schau.

Die zentrale Botschaft bleibt seltsam hohl

Die Tiefe, mit der die Beziehung von Nelly und Alexej geschildert wird, geht den anderen Charakteren leider verloren. Sowohl der amerikanische Verhörleiter John Bird (Jaky Ido) als auch Nellys polnische Lagerfreundin Krystyna (Anja Antonowicz) und leider auch Alexander Scheers Hans bleiben schablonenhaft und in ihren Motivationen und Hintergründen unklar. Tatsächlich liegt das Grundproblem des Films vor allem im Drehbuch von Heide Schwochow, der Mutter des Regisseurs. Während es anfangs noch viel Wert auf das Einfangen der Lageratmosphäre und das erniedrigende Prozedere zur Erhalt der Arbeitserlaubnis legt, verliert es sich mit wachsender Laufzeit in seiner umfangreichen Vorlage, will alle Stränge noch andeuten und büßt damit deutlich an Kraft ein. Vor allem das letzte Drittel des Films wird dadurch mehr und mehr zu einer Aneinanderreihung von Szenen, denen die innere Kongruenz fehlt. Zentrale Ereignisse bleiben für Zuschauer, denen die Lektüre der Vorlage fehlt, ungeklärt. Und auch die laut Pressemitteilung so zentrale und universale Botschaft des Films ― dass man nicht neu beginnen kann, ohne sich seiner Vergangenheit zu stellen ― bleibt daher seltsam hohl, da dieses Versprechen der Katharsis im Film selbst nicht eingelöst wird.

So scheitert der Film mit seiner Botschaft letztlich daran, dass die freie Romanverfilmung nicht frei genug ist, um alleinstehend zu funktionieren. Das ist vor allem schade, da hier alle Beteiligten mit viel Engagement am Werk sind. Ausstattung, Inszenierung, technische Umsetzung und schauspielerische Darbietungen sind auf höchstem Niveau, machen daher die Unzulänglichkeiten im Drehbuch nur umso tragischer.

Auf neue Filme des Regisseurs Christian Schwochow sollte man sich gerade aufgrund seines unbestrittenen handwerklichen Könnens dennoch weiterhin freuen, nur muss es beim nächsten Mal nicht gleich wieder eine Romanverfilmung sein.

Westen

Deutschland 2013, 102 Minuten

Regie: Christian Schwochow; Darsteller: Jördis Triebel, Christian Göbel, Alexander Scheer, Jacky Ido

Kinostart: 27. März 2014


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