Industriekultur und Zwangsarbeit

Ein Rundgang auf den Spuren der NS-Zwangsarbeit in Leipzig-Plagwitz

Dirk Fordtran führt die Gruppe zu fünf ausgewählten Plagwitzer Betrieben, die Zwangsarbeiter während der NS- Zeit beschädtigten. (Fotos: Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig)

Plagwitz blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Wo sich heute luxuriöse Lofts und gemütliche Cafés am Karl-Heine-Kanal entlangziehen, befand sich einer der wichtigsten Zentren der industriellen Revolution in Deutschland. Ein düsteres und bisher wenig beachtetes Kapitel betrifft die Zwangsarbeit in den vielen Rüstungsbetrieben des Stadtteils während des zweiten Weltkriegs. Der Verein Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig bietet verschiedene Stadtteilrundgänge an, die sich mit dieser Thematik beschäftigen.

An einem sonnigen Samstagmorgen haben sich mehr als 40 Teilnehmer vor dem Museum für Buch- und Druckkunst eingefunden. Es sind Geschichtsinteressierte jeden Alters, vor allem Studenten, die den Rundgang nutzen, um mehr über ihren Stadtteil zu erfahren. „Es gibt in Leipzig nur ganz wenige Gedenkstätten, die sich mit dem Thema beschäftigen“, sagt Dirk Fordtran, der den Rundgang konzipiert hat und durchführt. Um dies zu ermöglichen, hat der 24- jährige mehr als sechs Monate lang ehrenamtlich in Archiven geforscht. „Der Rundgang führt zu fünf Plagwitzer Betrieben, die Zwangsarbeiter beschäftigten, und ermöglicht einen Einblick in den Lebensalltag der Arbeiter“, erzählt der Organisator.

Anfangs hätten die Behörden versucht, Freiwillige aus Frankreich und Polen, die zuvor in Deutschland gearbeitet haben, für die Betriebe zu verpflichten. Als dies auf wenig Resonanz stieß, gingen die Behörden zur Zwangsrekrutierung über, was immer größere Ausmaße annahm. Insgesamt seien über zehn Millionen Menschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert worden, sagt Fordtran. Auf Leipzig bezogen gehe man heute von ungefähr 100.000 Zwangsarbeitern aus, was zwölf Prozent der Bevölkerung entsprach – Leipzig zählte damals etwa 700.000 Einwohner. Doch sei es schwer, konkrete Zahlen zu nennen, da ein Großteil der Unterlagen nicht mehr existiere, gibt Fordtran zu bedenken.

Los ging der Rundgang am Museum für Buch- und Druckkunst an der Nonnenstraße, wohin 40 Teilnehmer gekommen waren.

Während des Rundgangs gewährt einen Einblick in die damalige Dimension der Zwangsarbeit in Leipzig. Vieles ist heute kaum noch vorstellbar. Zu Beginn des beschaulichen Radweges entlang des Karl-Heine-Kanasl, in Sichtweite des Riverboots, befanden sich die Baracken der französischen Zwangsarbeiter der Firma Alfred Schurich Nutzholzhandlung. „Die Baracke war die am weitesten verbreitete Unterbringungsform im Dritten Reich. Sie war billig und effizient und wurde meistens von den Arbeitern errichtet, die anschließend auch in ihnen wohnten. Zudem konnte man diese Barackenstädte auch gut umzäunen und überwachen“, erzählt Dirk Fordtran und verteilt dabei einige alte Fotos des früheren Fabrikgeländes an die Teilnehmer des Rundgangs.

Inzwischen ist die Gruppe an der Erich-Zeigner-Allee angelangt. Auf einem großen Areal auf dem heute mehrere mittelständische Unternehmen beheimatet sind, befand sich der gewaltige Komplex der Firma Stöhr & Co., damals eine der größten Kammgarnspinnereien Deutschlands. Die Firma charakterisiert eine der widersprüchlichsten Kapitel der Zwangsarbeit in Leipzig.

Nach gut zwei Stunden endet der Rundgang im Statteilpark Plagwitz.

Walther Cramer, ein Vorstandsmitglied, war im Widerstand gegen die Nationalsozialisten aktiv und wurde im Jahr 1944 als Mitwisser des misslungenen Stauffenberg-Attentats hingerichtet. Zeit seines Lebens weigerte er sich, der NSDAP beizutreten und setzte sich für seine jüdischen Angestellten im Zweitwerk in Ungarn ein. „Er fühlte sich seinen Angestellten verpflichtet, und doch herrschten bei Stöhr & Co. überaus schlechte Arbeitsbedingungen der bis zu 1000 Arbeiterinnen, die aus Polen, Italien und Osteuropa stammten und in Zwölf-Stunden-Schichten an sieben Tagen in der Woche für einen mickrigen Lohn schuften mussten“, berichtet Fordtran . Zudem mussten die Ostarbeiterinnen zehn Prozent ihres Lohns als Verpflegungs- und Unterbringungspauschale direkt wieder abführen, welche geradewegs in die Rüstungsindustrie ging.

Aber warum gab es trotz des selbstlosen Engagements des Vorstandsmitglieds Walther Cramers eine derart große Ausbeutung der Arbeiterinnen? „Wahrscheinlich lag gewisserweise ein Zwang bei den Firmen, Zwangsarbeiter zu beschäftigen, da sie sich sonst verdächtig machen würden“, erzählt Dirk Fordtran.

Eine Frage bleibt noch ungeklärt, als der Rundgang nach zwei Stunden im Stadtteilpark in Plagwitz endet: Warum hat das Thema Zwangsarbeit in Leipzig bisher so wenig Beachtung gefunden?

Vereins Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig bietet regelmäßig Rundgänge an. Der nächste ist eine „Öffentliche Führung durch die Gedenkstätte für Zwangsarbeit“ am Samstag, 14. Februar 2015. Treffpunkt ist um 14 Uhr an der Permoser Straße 15 in Leipzig-Schönefeld auf dem Gelände des heutigen Umweltforschungszentrums.

Website des Vereins Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig

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