Drama einer Unbegabten

Was wollen wir sein und wie ertragen wir es? „Marguerite“ von Xavier Giannoli ist das kunstvoll komponierte Porträt einer unermüdlichen Sängerin

Marguerite (Catherine Frot) betört das Publikum mit ihren Misstönen. (Fotos: Verleih)

Eine Händel-Arie erklingt. Das gehobene Publikum lässt sich vom Gesang eines wunderbar warmen Stimmenduos verzaubern, das von einem Orchester begleitet wird. Dann, nach einigem gesellschaftlichen Geplänkel, verstummt die Zuhörerschaft erneut und richtet ihre Blicke auf eine hereinschwebende Diva der 1920er-Jahre, Baronin Marguerite Dumont, und ihren Pianisten, den imposanten schwarzen Diener Mandelbos. Es erklingen die ersten Töne des Klaviers, sie setzt an, mit freudig bebender Brust. Erst einer, dann noch einer und noch einer. Was mit einem anfänglichen Missgeschick begonnen haben könnte, steigert sich zur Arie von Misstönen mit den passenden Textfetzen „Sarastro Todesschmerzen“ der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte. Und das Publikum zuckt und zuckt. So beginnt der Film Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne von Xavier Giannoli, der bereits mit Chanson d’amour ein musikalisches Thema filmisch aufgriff.

„Die Stimme der Waisen“ wird einer der anwesenden Gäste später ironisch über den Auftritt der Baronin vor ihrem Wohltätigkeitsclub schreiben. Doch erkennt Marguerite diese Ironie nicht. Ihre Figur berührt in ihrem unermüdlichen Fleiß. Sie übe bis zu fünf Stunden täglich, erzählt sie ernst. Die dramatischen Operngeschichten sind ihr geistiges täglich Brot und scheinbar zu ihrem eigenen Lebensinhalt geworden. Diese Spiegelung setzt sich bis auf die Erzählebene des Films fort, der in fünf Kapiteln beziehungsweise Akten seine Handlung entfaltet.

Ein Cocon der Selbsttäuschung legt sich wie ein Schutzmantel um das, was Marguerite nicht wahrhaben kann oder will — und das sind nicht nur ihre eigenen schiefen Töne, sondern auch die nicht erwiderte Liebe ihres Mannes. Der Cocon macht sie resistent gegen die Widerstände, die sie auf ihrem schmerzhaften „Weg nach oben“ ertragen muss und setzt gleichzeitig genügend Lebensmut frei, nicht verrückt zu werden.

Was wollen wir sein, wie ertragen wir es oder eben nicht, die Stimme unserer eigenen Wahrheit zu hören? Der philosophische Wahlspruch aus der Antike „Erkenne dich selbst“ gelingt Madame Dumont tragisch und letzten Endes in Vollendung. Schon oft galt die Stimme als Tor, um für die Welt sichtbar zu werden. Doch macht das angreifbar. Die Baronin wirkt zerbrechlich in ihrer ehrlichen Inbrunst und lässt sich dennoch von den Bedenken und Verboten ihres Gatten nicht aufhalten. Ihre Geschichte lässt sich zugleich als eine der Emanzipation lesen, in der sich die Hauptakteurin trotz ihres Geldes aus der patriarchalen Bevormundung befreien muss.

Die Figur Marguerite ist keine Erfindung des Regisseurs Giannoli, der Film hat eine reale Vorlage. Florence Foster Jenkins, geboren 1868 in Pennsylvania, gestorben 1944 in New York, füllte als reiche Opernliebhaberin und Sängerin ihrerzeit selbstbewusst die Carnegie Hall mit ihrem schauerlich schiefen Gesang, den es noch heute zu kaufen gibt.

Dabei will Marguerite eigentlich nur einem gefallen: Baron Dumont (André Marcon), ihrem Ehemann.

Die Wahl von Catherine Frot als Baronin Marguerite Dumont mag auf den ersten Blick wie der Versuch erscheinen, mit der Rundheit ihres Gesichts die schiefen Töne erträglich zu schleifen. Doch das wäre zu einseitig betrachtet. Frot, die etwa 2012 in Die Köchin und der Präsident zu sehen war, gelingt es, die Spannung zwischen tragischer Selbsttäuschung, der Liebessucht der Baronin und naiver Großherzigkeit bis zum Ende aufrecht zu erhalten.

Die Besetzung des Barons Dumont durch André Marcon dürfte in synchronisierten Fassungen deutlich schwächer zur Geltung kommen. Erfährt doch seine Präsenz ihre Kraft gerade auch durch den Kontrast zwischen seinem ruhig-beherrscht erscheinenden Auftreten und der tiefen, wärmenden Stimme. Sie macht dem Publikum und gleichsam dem Baron selbst das Geschrei erträglicher, welches dem geliebten Ehemann gewidmet ist.

Vielfach knüpft der Film an eine bewährte Ästhetik an, indem er auf gefällige, weichgezeichnete Bilder in Sepiatönen mit einzelnen Farbakzenten setzt. So durchbricht das Rot eines vielsagenden Schals oder eines Vorhangs das Braun eines subjektiven Bewusstseinsstroms. Was dringt an die Oberfläche des Wahrnehmbaren, was ist die Wahrheit in diesem Stück um Täuschung und Selbsttäuschung inmitten der unkorrekten Diplomatie von Marguerites Mann, um deren Gunst und Liebe sie vergeblich buhlt? Es gelingt ihr, seine Pläne zu durchkreuzen, indem sie unwillentlich den wiedergesuchten französischen Nationalstolz dekonstruiert und damit seinen Beziehungen zu den einflussreichen gesellschaftlichen Kreisen aus dem Wohltätigkeitsclub jäh zum Abbruch verhilft. Von Marguerites jungen, avantgardistischen Neufreunden zur Teilnahme an einem musikalischen Abend eingeladen, ermutigt sie der Dadaist Kyril von Priest, in einem weißen Leintuch mit ausgebreiteten Armen die Marseillaise zu schmettern. Marguerite bemerkt zwar den Tumult vor der Bühne, begreift aber nicht dessen Ursache. Ihr Gewand wird zur Projektionsfläche filmischer Kriegsaufnahmen. Die kreischend-schiefen Töne, mit denen sie die französische Nationalhymne interpretiert, verzerrt das Bild vom scheinbar heldenhaften Tod der Franzosen auf den Schlachtfeldern Europas zusätzlich.

Bei ihrer „steilen Karriere“, die sie schließlich auf die Bühne eines vollen Pariser Konzertsaales führen wird, ist Butler Mandelbos immer an Marguerites Seite. Zu guter Letzt wird er es sein, der ihr in dieser Hinsicht ein würdiges Ende bereitet. Doch geht es ihm auch um den fulminanten Abschluss seines eigenen bildnerisch-dokumentarischen Schaffens. Eine Hommage an den Filmkünstler und die Filmkunst selbst zwischen Zerstörung und Schöpfung.

Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne ist ein komisch-tragischer Kostümfilm mit exzellenter Opernmusik und überraschender Tiefe, durchkomponiert mit den schneidend-falschen Disharmonien einer gnadenlos Unbegabten.

Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne

Frankreich/Tschechien 2015, 129 Minuten

Regie: Xavier Giannoli; Darsteller: Catherine Frot, André Marcon, Michel Faut, Christa Théret, Denise Mpunga

Kinostart: 29. Oktober 2015


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