DOK Leipzig: „The Complete Works“ von Justin Stephenson wird der Lyrik des Kanadiers bpNichol zu wenig gerecht
Tragende Schlagzeug-Schläge zu Bildern, die in ihrem Rhythmus an Berlin – Die Sinfonie der Großstadt von Walther Ruttmann erinnern. Zu sehen sind jedoch nicht Menschen der 1920er-Jahre, sondern die bekannte Darstellung einer Schreibästhetik im geradezu „wörtlichen“ Sinne: Die Buchstaben einer alten Schreibmaschine in der Courier-Schrift geben den Rhythmus vor, wie sie nacheinander bedächtig getippt werden. In diesem Stil werden noch mehrfach Buchstaben über die Leinwand fliegen, gleichsam als Refrain des Films. Eine raue, etwas zu selbstbewusste Männerstimme trägt im englischen Original einen lyrischen Dialog vor, der vom Verhältnis zwischen Dichter und Leser handelt. Wird das Werk von einem unbekannten Publikum rezipiert werden, Anklang finden, fragt das lyrische Ich.
The Complete Works von Justin Stephenson ist ein illustrierter Ausflug in das poetische Werk des kanadischen Lyrikers bpNichol, der von 1944 bis 1988 lebte. Er gilt als Meister der Konkreten Poesie und produzierte u.a. Klangkunst, Kurzgeschichten, Comics und Kinderbücher. Freunde des Künstlers, wie der Regisseur im Interview erklärt, lesen im Wechsel dessen Gedichte. Und Stephenson findet unterschiedliche Animationsstile, die die Methoden verbildlichen sollen, mit denen Nichol in seinen Gedichten arbeitete.
Einige von Nichols Texten sind lautmalerisch im Geiste eines Ernst Jandls. Das Gedicht „White Sound“ etwa ist halbanimiert dargestellt. Der vorlesende Herr löst sich fast in den schwarz-weiß-roten Bildern auf. Zurück bleiben die angedeutete Linienskizze des konkreten Realbildes und die onomatopoetischen Klanggebilde. Andere Texte werden satirisch als „wahre, eventuelle Geschichte von Billy the Kid“ erzählt, dessen Brutalität allein aus dem Frust über seinen zu klein geratenen Penis resultiere. Sätze, die den Vorlesenden selbst zum Schmunzeln bringen. Hier wählt Stephenson grobkörnig vergrößerte Ausschnitte aus einer der vielen Verfilmungen von Billy the Kid, wieder in den Farben Schwarz, Weiß und Rot. Auch bewährte Animationsgenres wie Comicelemente, Graffiti-Tags und Wortstempel in rustikaler Serifenschrift setzt Stephenson zur Bebilderung der Gedichte ein. Das Sounddesign basiert ebenso auf vertrauten Klangelementen, tragende Elektro-Teppiche, dissonante Gitarrenriffs, Perkussives und Loops durch Kratzer auf Vinyl.
Spannender als die gewählte Bildästhetik sind die vorlesenden Protagonisten in ihrer Individualität, wie sie jeweils den im künstlerischen Sinne performativen Sprechakt des Gedichts ausfüllen. Stephenson zeigt fünf Wegbegleiter in ihren charakteristischen Umgebungen, eine Frau und vier Männer. Da ist die Bibliothek mit vollgepackten Holzregalen, ein Garten, eine grüne Landschaft mit See zu Hause, ein steiniger Strand. Sie erzählen kurz etwas zur Auswahl ihrer Texte, sind aber sonst nur in der Rolle der Vortragenden zu sehen. Hier hätten genauere Porträts dem Film nicht geschadet.
15 Jahre habe Stephenson für sein Resultat gebraucht, erzählt er im Interview. Ihm sei es darum gegangen zu zeigen, wie das Emotionale des Inhalts der Gedichte von bpNichol und deren Form zusammenwirken und mit welchen Methoden der Lyriker arbeitete. Dass der Regisseur von Beruf Titeldesigner für Film und Fernsehen ist und Animationsfilme produziert, merkt man der Dokumentation deutlich an. Seinen vertrauten ästhetischen Welten bleibt er stark verhaftet. Der zitierte Wunsch des Dichters, mit seinem Leser in eine Beziehung zu treten, mag mit dem Filmemacher als Rezipient in Erfüllung gegangen sein. Möglicherweise kann The Complete Works auch auf das Werk von bpNichol aufmerksam machen. Jedoch fehlen die letzten Abstraktionen in Form innovativer Bildsprachen, um den experimentellen Texten des Lyrikers selbst wirklich gerecht zu werden.
The Complete Works
Kanada 2015, 41 Minuten
Regie: Justin Stephenson
DOK Leipzig 2015
Next Masters Wettbewerb
Internationaler Wettbewerb animierter Dokumentarfilm
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