Die 1000 Gegenteile von normal

Ali Abbassi gelingt mit „Border“ ein genialer Mystery-Thriller über die Emanzipation einer Trollfrau

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Trollfrau Tina (Eva Melander, rechts) entlarvt als Grenzbeamtin Schmuggler an der schwedisch-dänischen Grenze. (Foto: Verleih)

Es klingt wie ein Lehrfilm über „das Fremde“: Ein Film namens Border (Grenze), in dem die Grenzbeamtin Tina entdeckt, dass sie kein Mensch, sondern ein Troll ist, und ihren Platz in der Gesellschaft zunehmend in Frage stellt. Aber so einfach macht der schwedisch-iranische Regisseur Ali Abbasi es sich mit dem „Anderssein“ und dem skandinavischen Trollmythos nicht.

Seine Tina (Eva Melander) ist nach Lavater: ein Monster. Ein gedrungener Körper, knotige Haut, schlechte Zähne, ein Flaum bedeckt den Rücken. Sie ist wirklich anders. Die gesellschaftliche Integrationsleistung scheint in Border aber schon vollbracht. Denn durch ihre Fähigkeit, Gefühle wie Scham oder Angst bei anderen zu erschnüffeln, hat Tina ihren Platz gefunden. Als Grenzbeamtin entlarvt sie Schmuggler an der schwedisch-dänischen Grenze und deckt schließlich einen Kinderpornografie-Ring auf.

Tinas Anderssein bleibt von Anfang an Jenseits von „Erklären“ und „Verstehen“. Denn es ist nicht nur ihre „Hässlichkeit“ und ihre Fähigkeit, Gefühle zu riechen, die sie von der Norm unterscheidet. Sie erlebt die Natur als eine Kraft, die geradezu emotional in ihren Körper übertritt. Die Tiere kommunizieren mit ihr. Der skandinavische Wald ist für sie wie ein großer Rausch.

Diese Rauschbilder einer fast paradieshaften Natur bilden in Border den Gegenpol zu Tinas traurigem Frauenalltag. Soziale Unterschicht in Schweden. Ein Abendessen mit dem verrohten Liebhaber (Jörgen Thorsson) in der Waldhütte, der lieber seinen Kampfhund als Tina streichelt. Sie pflegt ihren dementen Vater (Sten Ljunggren), der ab und an vergisst, dass sie seine Tochter ist. Sie hat Besprechungen mit einer strengen Vorgesetzten (Ann Petrén), die ihre Fähigkeiten in Frage stellt.

Ali Abbasis Dogma-Ästhetik führt diese Welt mit so rasanter Selbstverständlichkeit ein, dass wir Zuschauer zwar auf all diese Grenzen stoßen: die sozialen, ästhetischen, rationalen … Sie aber schnell wieder verwischen. Denn Tina hat zu tun. Sie muss die Mittäter des Kinderpornografie-Ringes finden. Und ist Tina nicht doch nur das Ergebnis eines Chromosomenfehlers, eine Spielart der menschlichen Natur?

Doch jetzt lernt Tina bei der Arbeit den Grenzgänger Vore (Eero Milonoff) kennen und verliebt sich in diesen Trollmann, der den Charme eines Massenmörders versprüht. Und mit Vore lernen wir, wie vielfältig und schön die Welt der Trolle ist. Insekten fressen, Orgasmen in der freien Natur, eine ganz eigene Form der Trollsexualität. Das Wort „Ekel“ gibt es hier nicht. Sprache scheint so oder so abgeschafft. Tina stellt plötzlich ihre gesamte menschliche Integration in Frage. Das, was sie sein sollte, war nie das, was sie wirklich ist.

Und plötzlich wird aus dem mystischen Thriller auch noch die Emanzipationsgeschichte einer Frau, die eigentlich keine Frau, sondern eine Trollfrau mit Penis ist, der nach der Geburt das Steißschwänzchen abgeschnitten wurde. Freud würde der Kopf schwirren. Stellvertretend für alle Unterdrückten dieser Welt, stürzt sie sich wie ein Raubtier auf ihren verlogenen Vater, beißt ihren sozial schmarotzenden Freund samt Flatscreen und Hund aus der Wohnung. Etwas wird es selbst.

Eva Melander, die für die Rolle täglich vier Stunden in der Maske über sich ergehen lassen musste, spielt diese Tina, die niemals lächelt, manchmal schnüffelt und meist eine ganz normale Frau ist, sehr unaufgeregt. Diese Direktheit, die in Erregungszuständen einer brutalen, aber schwer zu definierenden Tierhaftigkeit weicht, ist wunderbar und öffnet die Kanäle zwischen Menschsein, Tiersein und Natursein.

Dieser Film hat noch viele Überraschungen parat und lässt den Zuschauer schmunzelnd und sprachlos zurück. Wir denken nicht nur über Ausgrenzung nach und nicht nur über sexuelle Abweichungen. Nicht nur über Männlichkeit und über Weiblichkeit. Nicht nur über die Deformitäten unserer westlichen Gesellschaft. Alle Stereotype, ja, alle Adjektive scheinen plötzlich zu Staub zu zerbröseln und unsere Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung wirken banal, weil sie eben nur menschlich sind. Aber was macht überhaupt einen Menschen aus?

Und nach all diesen schweren Gedanken liebt man den letzten Satz des Films. Eine Postkarte von Vore, auf deren Frontseite steht: „Willkommen in Finnland. Dem Land der tausend Seen.“ Es gibt eben 1000 Arten, die Welt und diesen Film zu sehen.

Border

Schweden/Dänemark 2018, 110 Minuten

Regie: Ali Abbasi; Darsteller: Eva Melander, Eero Milonoff, Jürgen Thorsson, Ann Petren

Kinostart: 11.04.2019

Wo der Film in Leipzig läuft

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