Registratur der Erinnerungen

Czeslaw Milosz definiert das Genre der Autobiographie neu

Biografien und Erinnerungen berühmter Künstler oder bedeutender Politiker erfreuen sich einer überaus großen Popularität. Neben den Bestsellerlisten zeugen davon auch die beachtlichen Honorare, welche den Autoren bisweilen versprochen werden. Nur kranken diese literarischen Werke häufig an einem Problem: Sie sind zu lang.

Der polnische Literatur-Nobelpreisträger Czeslaw Milosz hat nun (aus eigenen negativen Leseerfahrungen angeregt?) seinen Vorschlag für dieses Genre vorgelegt. Kurz und prägnant schildert er seine Erinnerungen an Orte, Gemütszustände, Personen und Überlegungen zu philosophischen wie religiösen Fragen. Die sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets geben der Erinnerung Miloszs ihren Rahmen.

Milosz hat fast sein gesamtes literarisches Werk außerhalb Polens geschrieben. Daneben war er lange Jahre als Professor für Slawistik an der University of Berkeley tätig. Die Literaturgeschichte ist reich an Beispielen für Autoren, die ins Exil gingen und kurz darauf verstummten oder einfach nicht mehr wahrgenommen wurden. Dazu gehören, um nur zwei zu nennen, Heinrich Mann und Sandor Marai. Der große ungarische Autor erlebt seit einigen Jahren eine erstaunliche und längst überfällige Renaissance. Doch hat er die jahrelange Abgeschnittenheit vom europäischen Literaturbetrieb nur schwer verwunden. Sehr zum Leidwesen der kommunistischen Regierung in Warschau, ist Milosz in Amerika nie verstummt. Er geht sogar soweit zu behaupten, dass er ohne sein Exil in Amerika nicht der Autor geworden wäre, der er heute ist. Inklusive Nobelpreis.

Trotz der Zeit in Amerika und Frankreich hat er seine Verbundenheit zu Polen nie aufgegeben. So handeln die ersten Erinnerungsmarken („Alles in allem…“) von seiner Kindheit und Familie in Wilna und den darauffolgenden Wanderjahren. So schreibt er über seine Gefühle, als er nach über fünfzig Jahren nach Wilna zurückkehrt. Über die Dankbarkeit, diesen Moment noch erleben zu dürfen. Seine Sprachlosigkeit über diesen Moment war der Ausgangspunkt für sein persönliches ABC der Erinnerungen.

Das Salz in der Suppe der persönlichen Erinnerungen sind die Erinnerungen an Freunde und Weggefährten, manchmal auch die Abrechnungen mit unliebsamen Zeitgenossen. Milosz bietet beides. Amüsant, voller Spott berichtet er von polnischen Autoren (auch teilweise im amerikanischen Exil), die voller Neid und Missgunst auf ihn blickten. So charmant Milosz sich erinnern kann, so gnadenlos kann er auch ein vernichtendes Urteil über eine Person fällen und seine Meinung wie einen Pfahl in den Boden rammen. Obwohl er Simone de Beauvoir nie begegnete, tat das seiner Antipathie keinen Abbruch. Bei ihrer Charakterisierung lässt Milosz jegliche Zurückhaltung fallen: ?Simone de Beauvoir war das Sprachrohr der Feministinnen. Kein gutes Zeugnis für diese. Wer am Schicksal der Frauen Anteil nimmt … dem gilt meine Hochachtung oder sogar Verehrung. Die Beauvoir jedoch hat nichts getan, als eine der vielen intellektuellen Moden aufzugreifen.“

Doch Milosz kann nicht nur granteln, er teilt auch bereitwillig seine Weisheiten mit allen, die sie hören wollen. Da ist die „Theorie vom allerletzten Zloty“, die besagt, dass etwas unternommen werden muss, wenn das Geld ausgeht. So einfach können Theorien sein. Miloszs Reflexionen lassen sich mit großem Gewinn lesen. Wohl auch deshalb, weil sich der Autor selber nicht so wichtig nimmt. Da ist es bezeichnend, wenn Ruhm als eine „menschliche Tollheit“ beschrieben wird, die schlicht „illusorisch“ ist. Mögen alle, die sich für berühmt halten, zu diesem Buch greifen.

Czeslaw Milosz: Mein ABC. Von Adam und Eva bis Zentrum und Peripherie
Aus dem Polnischen von Doreen Daume
Carl Hanser Verlag, München, 2002
180 Seiten, 18,90 €

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