„Von sich reden, um der Zunge die Zeit zu lösen“

Rudolf Augsteins „Vermächtnis“ ist auch eine Wanderung durch die deutsche Geschichte

Von so viel Aufhebens um seine Person hätte er selbst nicht viel gehalten. So mutet es auf den ersten Blick etwas despektierlich an, mit welcher Rasanz der SPIEGEL das Buch mit den wichtigsten Kommentaren, Gesprächen und Vorträgen von Rudolf Augstein zusammengestellt und noch rechtzeitig vor Weihnachten in die Buchläden gebracht hat. Oder vielleicht lag es auch schon lange fertig in einer Schublade? Das Spiegel-Heft, das Augstein gewidmet wurde, wäre der geeignetere Platz gewesen, seine wichtigsten Texte und Interviews abzudrucken und sie einer großen Zahl von Lesern zugänglich zu machen. Die wohlfeilen Erinnerungen sich der Bekanntschaft Augsteins rühmender Zeitgenossen, die immer wieder seine „herausragende Stellung“ repetierten, wirkten nur ermüdend.

Man könnte das Buch als Vermächtnis von Rudolf Augstein ansehen. Noch mehr aber ist es eine Wanderung auf den Pfaden deutscher Geschichte nach 1945. Und man begibt sich dabei nicht nur auf breite, ausgetretene, gut ausgeschilderte Wege. Nein, man lernt auch unbekanntes Terrain kennen. Da werden die Auseinandersetzungen mit Adenauer und der Streit um die Wiederbewaffnung der Bundeswehr dokumentiert. In Anbetracht der Auslandseinsätze der Bundeswehr ein notwendiger Rekurs in die Vergangenheit, um zu verstehen, wo die Anfänge lagen und warum deutsche Soldaten heute und in Zukunft im Ausland ihren Dienst ableisten.

Den Anfang macht ein respektvoller Essay von Jürgen Leinemann, der die Wurzeln von Augsteins publizistischer Arbeit freilegt. Seine Antriebsfeder waren die Eindrücke eines Aufwachsenden in einem Deutschland, das von Hitler in das Verderben gesteuert wurde. Zum „Sturmgeschütz der Demokratie“ wurde der SPIEGEL für seine kompromisslose Haltung in der gleichnamigen „Spiegel-Affäre“ über den angeblichen Landesverrat des Herausgebers. Augstein ergänzte, indem er sagte: „Sturmgeschütz der Demokratie, mit verengten Sehschlitzen“.

Bei der Lektüre des Streitgesprächs mit Günther Grass über die Wiedervereinigung aus dem Jahr 1990 werden noch einmal die gegensätzlichen Strömungen deutlich. An die Widerstände und Vorbehalte mag sich mancher gar nicht mehr erinnern. Augsteins Festhalten an der Unausweichlichkeit einer Wiedervereinigung wurde ihm als Nationalismus ausgelegt. Er bezeichnete sich in dem Sinne als Nationalist, als dass er die Interessen Deutschlands gewahrt sehen wollte, sich aber gegen den Vorwurf verwahrt, dass die Deutschen eine neue Eroberung Europas planten. Augstein, der mit der Grass’schen Logik einer moralisierenden, philosophierenden Betrachtungsweise und eines Abwartens über die Wiedervereinigung nichts anzufangen wusste, setzte diesem lieber seine politische entgegen: Der Zug ist weg.

Relativierend äußerte er sich über die wirkliche Macht von Journalisten. Diese sei doch nur beschränkt, weil man einen Politiker nicht wegschreiben könne, nicht einmal gegen ihn anschreiben. Allein über ihn schreiben. Augstein war ein Herausgeber, der seine Redaktion nie mit Kritik verschont hat. Ich schreibe, was ich denke, sagte er einmal in einem Interview mit jungen Redakteuren des SPIEGEL. Das war seine einzige Richtlinie. Er kokettierte gerne mit seiner Rolle als Herausgeber und seinem Einfluss. Eigentlich langweile ihn der Spiegel, sagte er bereits in den fünfziger Jahren. Aber irgendwann gewöhnt sich der Mensch ja an alles. Im Rückblick lassen sich die Texte auch deshalb mit Gewinn lesen, weil mittlerweile einiges eingetreten ist, was Augstein in seinen Kommentaren nicht für möglich gehalten hat. Am Ende bleibt aber ein Bild von dem, was gewesen ist.

Rudolf Augstein: Schreiben, was ist. Kommentare, Gespräche, Vorträge
Herausgegeben von Jochen Bölsche
Deutsche Verlags-Anstalt, München, 2003
384 Seiten, 24,90 €

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.