Schriftstellerin nach der Stanislaw-Methode

Ljudmila Ulitzkaja liest aus einer Familiensaga ohne Sentimentalität

Am 23. März 2001, dem Tag, an dem die russische Raumstation „Mir“ pünktlich und punktgenau in den Pazifik stürzt, an dem durch fatale Verkettung von Umständen Projekte ins Wasser fallen, der Stuhl eines Richters auf dem Balkon neben unserem zusammenbricht und auf der Buchmesse im Neuen Messegelände Begegnungen der anderen Art passieren, liest Ljudmila Ulitzkaja abends aus ihrem neuerschienenen Buch „Reise in den siebenten Himmel“ (Verlag Volk und Welt).

Die naTo ist gut besucht. Wir finden gerade noch Platz an den Seitenwänden der Bühne, so daß wir die beiden Akteurinnen mit jungenhaftem Pagenschnitt auf der Bühne im Profil sehen, dem Publikum aber ins vielgestaltige Gesicht. Frische Szene, langhaarig oder kurzgeschoren, verträumt und neugierig. Seit vierzehn Tagen sei sie auf Lesereise und habe erstmals ein so junges Publikum, so Ljudmila Ulitzkaja (Jahrgang 1943).

Zügig, fast unbetont liest sie wenige russische Sätze aus ihrem Buch, sie wolle das deutsche Publikum nicht allzu lang quälen, und übergibt dann ihrer Übersetzerin Ganna Maria Braungardt das Wort, wobei die schmunzelnde Reaktion der Zuhörer auf die Einführung in den Text vermuten läßt, daß sie des Russischen mächtig sind.

Wieder eine Familiensaga, wieder private Geschichte, Ironie, Wärme ohne Sentimentalität. Das russische Volk sei schon immer empfänglich für globale Ideen gewesen, etwa „Die Liebe wird die Welt retten.“, doch ihrer Meinung nach sei die Zeit der globalen Ideen vorbei, bemerkt Frau Ulitzkaja nach der Lesung.

Beim Zuhören gewinne ich leider den Eindruck, daß hier auch keine weltbewegende Literatur stattfindet. Die vorgestellten Abschnitte schildern vor allem das Tun einer Genetikstudentin, die vor sich selbst erschrickt, als sie angesichts eines menschlichen Fötus die lapidare Frage stellt: „Tot oder lebendig“?. Sie bricht ihr Studium ab. Etwas schulmeisterhaft und plakativ kommen die ethischen Konflikte daher, Diskussionen mit dem Vater, mit sich selbst. Das Publikum lebt auf, als Ganna Maria Braungardt die spritzig erzählte Szene eines Vergewaltigungsversuchs der Protagonistin durch ihren alten Professor vorliest, dessen Genital mit einer glänzenden roten Zwiebel verglichen wird. Meine Erwartungshaltung macht mir zu schaffen, ich finde sie nicht, die Spezialität der Ljudmila Ulitzkaja: leise Töne, ich finde die wunde russische Seele nicht. Das sind nur unwesentliche Bruchstücke des Buches, sage ich mir schließlich, und will mich vom ganzen (allerdings 48,-DM!) eines anderen belehren lassen.

Spannend wird es, als die Diskussion beginnt. Die russische Sprachmelodie wiegt und lullt uns ein, Frau Ulitzkaja erzählt klug und hintergründig witzig. Sie habe sich in ihrem Buch mit Grenzen beschäftigt, mit den Grenzen der menschlichen Möglichkeiten, den Grenzen der Erfahrung von der Wirklichkeit, die bei jedem anders verlaufen, der Grenze Leben – Tod. Der „siebente Himmel“, der nach der traditionell jüdischen Vorstellung der Sitz Gottes ist, heiße im Russischen so viel, wie „die siebente Seite der Welt“. Noch nie habe sie einen Menschen gefunden, der wirklich Atheist sei. Die Menschen setzten für Gott immer nur etwas anderes. Von Hause aus sei sie Genetikerin, erst mit fünfzig sei ihr erstes Buch erschienen. So sei sie sozusagen eine junge Autorin, was ihr sehr recht sei. Mittlerweile habe sie auch in Deutschland sechs Bücher veröffentlicht; sie rüste sich also langsam zum Übergang ins Stadium der seriösen Autorin. Außerdem habe sie sowieso den Eindruck, daß sie alles, was sie an Klugem hatte sagen wollen, bereits gesagt habe. Schriftstellerin sei sie nach der Stanislawski-Methode geworden, was so viel heiße, wie: „Ich habe mir eingebildet, eine Schriftstellerin zu sein, und darin war ich sehr überzeugend.“ Wir lachen, sie ist überzeugend.

Ljudmila Ulitzkaja: Reise in den siebenten Himmel
Lesung zur Leipziger Buchmesse
23. März 2001, naTo

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