Erinnerung als Gratwanderung: Holocaust-Denkmal und Szene-Kneipen in unmittelbarer Nachbarschaft
Freitagnachmittag in der Gottschedstraße. Die Freisitze der Cafés sind verwaist. Der Sommer hat sich verabschiedet und das Wetter lädt nicht zum Verweilen ein. Ungeduldig hupen Autos, die nur langsam vorankommen. Getränketransporter werden ausgeladen. Leipzigs Kneipenmeile bereitet sich auf ein Wochenende vor. Doch die Szene-Lokale bestimmen nicht mehr allein das Straßenbild in der Gottschedstraße. Anlässlich der vierten Jüdischen Woche ist jetzt das Mahnmal für die verfolgten und ermordeten jüdischen Bürger Leipzigs eingeweiht worden.
Ein Holocaust-Denkmal neben bekannten Amüsierbetrieben wie Café Küf und Magapon? Was auf den ersten Blick sich auszuschließen scheint, gewinnt bei näherem Hinsehen an Reiz. Teilen Gedenkstätten und Mahnmäler nicht häufig das gleiche Schicksal? Aufgestellt an abgelegenen Orten, spärlich besucht und einmal im Jahr zu ?Kranzablagestellen? degradiert? Dieses Schicksal war schon dem unscheinbaren Gedenkstein beschieden, der zu DDR-Zeiten an gleicher Stelle die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung Leipzigs in Erinnerung halten sollte.
Bis zur Einweihung der Gedenkstätte war es allerdings ein langer Weg. Bereits 1994 hatte die Leipziger Stadtversammlung beschlossen, gemeinsam mit der Israelitischen Religionsgemeinde und der Ephraim-Carlebach-Stiftung eine Erinnerungsstätte für die fast 14.000 von den Nationalsozialisten ermordeten jüdischen Bürger Leipzigs zu errichten. Die Israelitische Religionsgemeinde und die Jewish Claims Conference (JCC) forderten jedoch die Rückgabe des Grundstückes in der Gottschedstraße. Erst im Januar 1996 einigten sich die Beteiligten.
Als Ort für das Mahnmal wurde bewusst der Platz der ehemaligen Großen Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße gewählt. Und in der direkten Konfrontation mit der Alltagswelt liegt die Herausforderung und Chance dieses Ortes. Denn die Fragen drängen sich fast von allein auf, wenn der Blick von den Freisitzen der umliegenden Cafés auf die leeren Stuhlreihen schweift. Vor diesem Denkmal kann man nicht die Augen verschließen.
Anna Dilengite und Sebastian Helm – den beiden Leipziger Architekten – ist es gelungen, mit einfachen Mitteln einen Ort zu schaffen, der trotz der Nähe zu Cafés und befahrenen Straßen ein Ort des Verweilens ist. Vierzehn Stuhlreihen – 140 Stühle – erinnern an das zerstörte Gotteshaus, der ehemals sechstgrößten jüdischen Gemeinde Deutschlands. Wer auf ihnen Platz nehmen möchte, gelangt über eine breite Schräge auf den von Liguster-Sträuchern umsäumten Sockel.
Für Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee erfüllt das Mahnmal eine über bloße Lippenbekenntnisse hinausgehende wichtige Funktion, die in Zeiten medialen Platitüden zu einem raren Gut geworden ist: ?Das Denkmal soll ein Stachel im Fleisch der Stadt sein, der zu Aufmerksamkeit und kritischer Wachsamkeit zwingt.? Der Stachel sitzt nun im Fleisch der Stadt und trotzdem werden die Leipziger erst langsam des Mahnmals gewahr. So sind es immer noch zufällige Begegnungen mit ihrer Geschichte, die sie staunen und fragen lassen. Passanten mit vollen Einkaufstüten kommen vorbei, schauen überrascht und bleiben vor einer Bronzetafel stehen, die in deutscher, englischer und hebräischer Sprache über die Geschichte der jüdischen Gemeinde und ihres Schicksals aufklärt. Zwei ältere Damen haben in der letzten Stuhlreihe Platz genommen: ?Schau mal, die Jahreszahlen schreiben sie aber auch wie wir?.
Erinnerung kann nicht vorgeschrieben werden. Doch hoffen kann man, dass noch viele Bürger und Gäste dieser Stadt den Weg in die Gottschedstraße finden und sich auf die 140 Stühle setzen werden.
30. September 2001, 140 Stühle zwischen Café Küf und Magapon
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