Eine Hommage zum 100. Todestag des Komponisten Guiseppe Verdi
Wie vielen anderen Menschen erschien auch Verdi die Phase in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts als Zusammenbruch einer alten Welt mitsamt ihren Wertvorstellungen. Man suchte neue Fluchtpunkte und fand sie neben Mythologien (daher der Erfolg der Werke Richard Wagners) im Nationalismus, aber auch in einer neuen Religiosität. Zwei Tode waren einschneidende Ereignisse jener Zeit: Am 10. März 1872 starb der Revolutionär und Begründer einer ganzen Kulturbewegung (des „jungen Europa“), Giuseppe Mazzini, und am 9. Januar 1873 verlöschte das Leben Napoleons III., des französischen Ex-Kaisers. Für Verdi waren das markante Zeiteinschnitte. Darüber hinaus starb am 22. März 1873 der von Verdi bewunderte Alessandro Manzoni. Mit seinem „Requiem“ schrieb Verdi auch einen Nachruf auf diesen Dichter.
Giuseppe Verdi, der vom 9. oder 10. Oktober 1813 bis 27. Januar 1901 lebte, stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Verdis Vater betrieb in Le Roncole, einem Dorf bei Busseto (Parma), einen Kramladen. Niemand in der Familie war Musiker. Der Siebenjährige lernte beim Dorfpriester Lesen und Schreiben. Seine musikalische Begabung zeigte sich früh, denn bereits als Zehnjähriger spielte er Orgel in der Dorfkirche. Wohl auf Drängen des wohlhabenden Kaufmanns Antonio Barezzi besuchte der junge Verdi das Ginnasio in Busseto; Barezzi vermittelte ihm auch den ersten Lehrer, den Domorganisten Ferdinando Provesi. Verdi hat den Kaufmann zeitlebens dankbar als seinen eigentlichen Vater verehrt.
Vom Mailänder Konservatorium als Student abgewiesen, nahm er auf Kosten Barezzis Privatunterricht bei Vincenzo Lavigna, bei dem er vor allem den strengen Satz lernte. Im April 1836 erhielt Verdi einen Vertrag als Maestro di Musica in Busseto. Daraufhin heiratete er Margherita, Barezzis älteste Tochter. Die glückliche Ehe fand ein trauriges Ende: Beide ihm von Margherita geborene Kinder starben; am 18. Juni 1839 entriss ihm der Tod auch seine junge Frau. Der mit einem Opernauftrag für die Scala in Mailand beschäftigte Komponist geriet in schwere Depressionen.
Seine ersten Opern kamen beim Publikum kaum an. Erst mit „Nabucco“ (1842), dessen Komposition ihm Merelli, der allmächtige Direktor der Mailänder Scala, beinahe gewaltsam aufdrängen musste, ging Verdis Erfolgskurve nach oben. Nun folgten zahlreiche Opernaufträge, es waren Verdis „Galeerenjahre“. Bezeichnenderweise kaufte der Komponist sich, wirtschaftlich unabhängig geworden, das Gut „Sant Agata“ bei Busseto, das er, der sich selbst als „einen Bauern aus Parma“ bezeichnete, persönlich bewirtschaftete.
1847 lernte er in Paris, wo er anlässlich der Einstudierung einer seiner Opern weilte, die Sängerin Giuseppina Strepponi (seine erste Abigail in „Nabucco“) kennen und verliebte sich in sie. Das Paar zog zusammen, was in Busseto für einen Skandal sorgte; erst nach Jahren legitimierten der Sänger und die Sängerin die Verbindung durch die Heirat.
Die Operntrias „Rigoletto“, „Il Trovatore“ und „LaTraviata“ (1851-53) machte Verdi zum weltberühmten Mann. Der begeisterte Patriot ließ sich auf Drängen Cavours 1861 ins Parlament Italiens wählen, nahm aber nach der Eröffnung nicht weiter an den Sitzungen in Turin teil. Mit „Aida“ (1871) glaubte Verdi sein Lebenswerk als Opernkomponist abgeschlossen. 1873 verfasste er sein „Requiem“, das auch einen bereits 1868 komponierten Teil („Libera me“) einschließt. Arrigo Boito, selbst Musikdramatiker, überredete Verdi später, noch zwei weitere Opern zu schreiben – die beiden überragenden Spätwerke „Otello“ (1886) und „Falstaff“ (1892), für die Boito die Libretti verfasst hatte.
Verdi war zeitlebens kein religiöser Mensch im kirchlichen Sinne. Daran hinderte den Patrioten schon der zeitbedingte Gegensatz von römischer Kirche und dem Risorgimento. Dennoch fand er gegen Ende seines Lebens den Weg zu einem ethisch fundierten Christentum, in dem kirchliche Vorstellungen und Bilder sich niederschlugen. So ist denn auch Verdis „Requiem“ nicht für die Liturgie, sondern für den Konzertsaal geschrieben. Es besitzt die dramatische Geschlossenheit und den musikalischen Rang seiner letzten Meisterwerke
Sein „Libretto“ ist das denkbar gewaltigste, es ist der Text der katholischen Totenmesse, der bereits Mozart, Cherubini und Berlioz zu monumentalen Vertonungen angeregt hatte – die lateinische Missa pro defunctis. Sowenig Verdis Werk sich in das kirchliche Totenritual fügt, so ist es doch der Ausdruck eines bei aller Distanz zur Kirche tiefreligiösen Menschen, der auch in einem solchen Fall den genialen Bühnendramatiker nicht verleugnet. Impulsive Einfühlung und farbenfrohe Darstellung, Eigenschaften der italienischen Musik insgesamt und der Oper im besonderen, prägen auch die Sprache von Verdis „Requiem“. Die der Romantik eigene vielgestaltige Dynamisierung der Klanggestalt verbindet sich mit dieser Italianit zu einer Bild- und Sinnenhaftigkeit, die selbst die religiöse Aussage bestimmt.
Die opernhaften Elemente werden bei Verdi eingeschmolzen in den Strom emotionaler und geistiger Verkündigung. Ein seiner eigenen Mittel sicherer Meister dient der eindringlichen Aussage des altehrwürdigen Textes: der Demut vor der Majestät des Todes, dem Schuldbewusstsein gegenüber einer Macht, die über Leben und Tod gebietet, und der Hoffnung auf eine durch Bitten zu erlangende Erlösung aller gläubigen Seelen. Anders hat auch Mozart sein „Requiem“ nicht aufgefasst; der Agnostiker Berlioz wohl auch nicht. Verdi kannte und schätzte dessen „Requiem“, was seiner eigenen Komposition durchaus anzumerken ist. Wenngleich er sich von dem ins Monströse übersteigerten Pathos distanzierte.
Verdis “ Requiem“ bildet mit Ludwig van Beethovens „Missa Solemnis“ und den späten Messen Joseph Haydns den Gipfel der liturgischen Musik des 19. Jahrhunderts. Weitere charakteristische Produkte sind Johannes Brahms´ „Deutsches Requiem“, Gabriel Faurés „Requiem“ und Anton Bruckners Messen, diese jedoch eher intime Zwiegespräche zwischen einem Menschen und seinem Gott. Anders in den benachbarten Ländern: In Frankreich kamen Luigi Cherubinis herb-eindringliche Messen zur Aufführung. Gaetano Donizetti benutzte in seinem „Requiem in memoriam Vincenzo Bellini“ eine ebenso „opernhafte“ ausdrucksvolle Sprache wie Gioacchino Rossini in seinem „Stabat mater“ und in seiner „Petite Messe Solennelle“.
Musikalisch gesehen ist das Requiem eine Summe. Eine Summe der Verdi zu Gebote stehenden instrumentalen und sanglichen Ausdrucksmöglichkeiten. Wenn er sich mit „Aida“ ein wenig in stereotype Klänge verloren hat, so findet er in der Totenmesse zur Sprache seiner mitreißenden Werke „Rigoletto“, „Trovatore“, „La forza del destino“ zurück. Er lag Verdi fern, ein Requiem zu „veropern“. Er bediente sich seiner eigentümlichen Tonsprache, die nun einmal von der Bühne kommt, und die pathetisch ist:
I.
Verdis „Missa da Requiem“ umfasst sieben Teile. Der erste bindet den Introitus „Requiem aeternam“ und das „Kyrie“ zusammen. Der absteigenden Linie der Bässe und der innigen Kantilene der Violinen antwortet der Chor mit psalmodierenden Einwürfen. Der Mittelteil wird von dem A-cappella-Chor – in motettischer Satzweise an Palestrina gemahnend – bestimmt. Die Wiederholung des „Requiem“ leitet über zum bewegten „Kyrie“, angestimmt vom Solo-Tenor in empathischer Bitt-Geste, grundiert wiederum von absteigenden Bässen.
II.
Der zweite Teil, die Sequenz, nahezu ein Drittel des Gesamtwerkes beanspruchend, ist ein vielgliedriges Kolossalgemälde des Jüngsten Gerichtes mit dem Aufgebot aller Klangmittel. Scharfe Schläge des vollen Orchesters, chromatisch wogende Aufschreie des Chores „Dies irae“ unter grellen Liegetönen, hochschiessende Streicherskalen, wilde Blech- und Schlagzeug-Akzente suggerieren plastisch den Schrecken der Letzten Dinge. Es ist eine musikalische Apokalypse von niederschmetternder Gewalt. Die Mezzosopranistin verkündet bei „Liber scriptus“ das Aufschlagen des Gerichtsbuches, ehe die Schreckensvision des „Dies irae“ abermals erscheint. Das nach dem vom Soloquartett präsentierten „Recordare“ angestimmte „Ingemisco“-Arioso gehört zum schönsten, das Verdi für einen lyrischen Tenor geschrieben hat. Der Bass antwortet jäh mit dem drohenden „Confutatis“-Arioso, in dessen Gefolge die Schreckensvision des „Dies irae“ ein drittes Mal erscheint.
Das klagende „Lacrymosa“, ein breit ausgeführtes, ausdrucksgespanntes Finale, führt wiederum Soli und Chor zusammen. Mit dem von Tremoli grundierten „Dona eis requiem“ klingt der zentrale Satz ruhig aus. Verdi hat die Sequenz der Totenmesse zu einem architektonisch grandiosen Gebilde geformt.
III.
Der dritte Teil, das Offertorium ?Domine Jesu Christe?, ist den Solostimmen zugeteilt, die von Holzbläsern und geteilten Streichern umspielt werden. Die vom Solosopran beherrschte Anrufung des Bannerträgers Michael, der die Seelen ins himmlische Licht geleitet, erinnert mit seinen Sphärenklängen an Wagners ?Lohengrin?. Bei ?Quam olim Abrahae? verzichtet Verdi auf die traditionelle Fuge zugunsten eines angedeuteten Fugatos.
IV.
Trompetenstöße eröffnen das ?Sanctus?. Ein akklamierender Ruf des nun achtstimmigen Doppelchores ist das Signal zur Entfaltung einer Allegro vorwärtseilenden Doppelfuge, die auch das ?Benedictus? in ihren virtuos-polyphonen Strom mitreißt. Bei ?Pleni sunt coeli? geht die Fuge in alternierend homophone Doppelchörigkeit über, die sich im ?Hosanna? zu jubelnder Festlichkeit steigert.
V.
An fünfter Stelle steht das ?Agnus Die?. Die sich an die Gregorianik anlehnenden Melodie wird in ganz einfacher, stiller Haltung abwechselnd von den im Oktavabstand gekoppelten weiblichen Solostimmen und dem Chor vorgetragen, von den Instrumenten nur zart gestützt und umrahmt. Die tiefen Frauen-Solostimmen des Schlusses und die abschließende aufsteigende Pianissimo-Phrase des Orchesters lassen den Ausklang des Satzes als trostlose Vision erscheinen.
VI.
Der sechste Teil, die Communio ?Lux aeterna? für Mezzosopran, Tenor und Bass, ist in seiner weichfließenden Melodik entsprechend der Vision des ?Ewigen Lichtes? vom sechsstimmigen Klang der geteilten Violinen umstrahlt. Das A-cappella-Terzett des ?Requiem aeternam? mit seinen heiklen Modulationen, der Ausklang im pianissimo, gewähren noch einmal einen Ruhepunkt.
VII.
Der Schlussteil klingt mit dem auf einem Ton psalmodierenden, vom Unisono-Chor übernommenen ?Libera me? erregt auf. Das Sopran-Solo ?Dum veneris? lässt anschließend die Schrecken des ?Dies irae? ein letztes Mal einbrechen. Nach Abklingen des Infernos entfaltet sich die wohl schönste Stelle des Werkes, das ?Requiem?-Solo des Soprans mit begleitendem A-cappella-Chor, eine Eingebung von überirdisch-visionärer Eindringlichkeit, in vierfachem Piano ausklingend. Die nun folgende vierstimmige Chorfuge, Allegro risoluto, die das markante Thema auch in der Umkehrung durchführt, endet in machtvoller, rhythmisch punktierter energischer Homophonie. Die Erregung ebbt ab, und das Werk schließt mit der auf dem Ton C psalmodierenden und dem zweimaligen verhauchenden ?Libera me? des Unisono-Chores.
(Beate Hennenberg)
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