Political correctness

Günter Grass gibt mit Novemberland im Gewandhaus ein musikalisches Statement

Von den fünfhundert Plätzen im Mendelssohnsaal sind etwa dreihundertfünfzig besetzt. Das Publikum, mittleres Leipziger Bildungsbürgertum, ist eines, das sich sehen lassen will. Nach dem Grußwort des Städtischen Kulturdezernenten Georg Girardet, der betont, daß nur derjenige Zukunft habe, der sich mit seiner Vergangenheit (Reichsprogromnacht, Antisemitismus) auseinandersetze, tritt leicht gebeugt und in roter Weste Günter Grass ein. Er setzt sich an einen Tisch auf der Schaufläche.

Beifall und Schweigesekunden. Es folgt der Auftritt verschiedener Musiker. Sie gruppieren sich unter einem anschwellenden Gleichton um Grass, nehmen ihre Plätze ein. Der Ton wird differenzierter, wir hören instrumentale Schreie, Wind, Quietschen, Klopfen, Pfeifen und Anklänge von Melodien, die abbrechen oder dissonant beendet werden. Der agile Günter Baby Sommer gibt dem Orchester mit Zetteln und Händen Anweisungen zur Erzeugung von Vibrati oder kreisenden Lauten; minutenlang steigert sich das scheinbar chaotische, doch kunstvoll komponierte Stimmengewirr aus Baßklarinette, Violine, chinesischem Hackbrett, ägyptischer Handtrommel, Posaune, Kontrabaß usw. bevor Grass in den abklingenden Ton hinein das erste seiner dreizehn Novemberlandsonette rezitiert Das Unsere: „… Wo wir uns finden, hat verkehrte Konjunktur / uns fett gemacht. …“

Wieder setzen Töne ein, die von Schönheit nicht reden. Unter der Geräuschkulisse interpretiert Sigune von Osten in schrägem Sprechgesang das zweite Sonett Novemberland. Sie erscheint mit ihrem langen roten Kleid, dem harten theatralischen Gesicht und dem weißen bauschigen Haar hexenhaft, verzerrt künstlich die Sprache und wechselt abrupt und gekonnt die Tonlagen.

Dreißig Minuten sind vorbei, und das Ohr hat keine Harmonie gehört. Auf die Dauer wirkt das ständige Daneben, Auffällige und Überspannte eintönig, und das wird dem Text gerecht: „Das bleibt veränderlich sich gleich und ähnelt … den abgelebten Fotos aus dem Dritten Reich.“ Schon möchte man dem Katzenjammer entweichen und entwickelt so etwas wie Angst vor der Länge. Denn nach dreiunddreißig Minuten sind erst zwei Sonette vorgetragen, und es gibt dreizehn.

Dreizehn Sonette. Eins zu viel für ein harmonisches Dutzend, eins zu wenig für einen Sonettenkranz. Wollte man dem eine höhere Bedeutung zugestehen, könnte man behaupten, es fehle bei der Thematisierung einer Kultur, die mit Unnatur gleichzusetzen ist, das vierzehnte, das klammernde Muttersonett. Unschöne Konsonantenspiele wie bei der Stimmbildung (ttttttttttt…tttt..sssssttttt…), karikiertes und vielfach wiederholtes Sprachmaterial („wenig Tote, wenig Tote, wenig …“), verschiedenartige Musikstile und -richtungen, die gegeneinander spielen (Jazz, Klassik, chinesische, ägyptische Klänge), tun ihr übriges. Über aidsverseuchtes Blut, unversorgten Müll, deutsche Renten, Mölln, Stasispitzel und Talkshows, aber auch über poetische Stellen wie „Komm, Nebel, komm! Und mach uns anonym.“ nähern wir uns mit Blick auf den denkenden Grass vor dem Weinglas dem dreizehnten politischen Gedicht: „Wer kommt?“ und der Schlußzeile: „…demnächst droht Weihnacht dem Novemberland.“

Der stehende Grass liest eindringlich, wiegt sich dabei hin und her, die Musiker sind wieder aufgestanden und wandern umher. Nach dem letzten Satz des dreizehnten Sonettes erklingen einträchtige weihnachtliche Tonfolgen, man spielt erstmalig und übertrieben zusammen. Allein der Endton der Veranstaltung gleicht dem bedrohlichen Anfangston. Schöne Metaphorik. Grass geht, der Beifall ist stark, Leute stehen auf, erst einige, dann bald die Hälfte des Saals.

Hatte ich mir vor der Veranstaltung die Frage gestellt, wie man aus 13 Sonetten ein abendfüllendes Programm macht, so habe ich jetzt die Antwort: durch absichtliche Verletzung der Hörgewohnheiten, nervenden provozierenden Sprechgesang und durch Vollblutmusiker, die Stimmungen transportieren und geniale Übergänge schaffen. Für die Extravaganz war es gut. Ein politisches Statement war es auch. Nur verbrennt sich hier niemand die Finger und exponiert sich an brisanten Stellen der Gegenwart.

Novemberland
Günter Grass, Rezitation
Sigune von Osten, Sopran, Stimme
Günter Baby Sommer, Musikalische Leitung
ensemble MUSICA TEMPORALE
Duo Drache
Trio Takht
Günter Baby Sommer-Jazztett
09. November 2001, Mendelssohnsaal des Gewandhauses

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