Es muss sich erweisen, inwiefern der Streik der Kultur die Töpfe füllen kann
Jüngst erschien in der Zeitschrift „Nature“ ein Aufsatz über eine gefährliche Illusion im menschlichen Gesichtssinn. Die Studie beschäftigte sich mit der Frage, warum das Gehirn manchmal nicht wahrnehmen will, was das Auge aufnimmt und ans Sehzentrum im Gehirn weiterleitet. Die Wissenschaftler versuchten das Phänomen dadurch zu erklären, dass das Gehirn für jede gegebene Wirklichkeit mit zahlreichen Interpretationen überschwemmt wird, sich letzten Endes aber für eine entscheiden und danach handeln muss. Der faszinierende Teil dieser Erklärung liegt in der Annahme, dass in dem Moment, da das Gehirn sich für eine bestimmte Interpretation des von den Augen aufgenommenen Bildes entschieden hat, alle Details, die eine abweichende Interpretation unterstützen, einfach verschwinden. Das Gehirn weigert sich fortan, sie in Betracht zu ziehen.
So könnte auch die Situation der Leipziger Kulturszenerie – Hochkultur und Freien Szene gleichermaßen – und der jährliche Kampf um die Fördergelder umschrieben werden. Jedes Jahr verkündet Stadtkämmerer Kaminski, das ein ausgeglichener Haushalt vorliegt. Mit der gleichen Regelmäßigkeit verkündet Herr Kaminski dann aber auch, meistens in der Mitte des Jahres, dass die Stadt Etatkürzungen vornehmen muss. Dafür sind freilich auch Entwicklungen verantwortlich (steigende Sozialausgaben, sinkende Gewerbesteuereinnahmen), die die Stadt fast nicht beeinflussen kann.
Am 19. Dezember des vergangenen Jahres verabschiedete der Stadtrat die beschlossene Kürzung von 470.000 Mark im Kulturetat. Bezeichnender Kommentar von Susanne Kucharski-Huniat, der Leiterin des Kulturamtes in einem KREUZER-Gespräch: „500.000 DM in einem Haushaltsjahr einzusparen ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit.“ Kulturverhinderung statt Kulturermöglichung wird hier offensichtlich zum Programm erhoben. Betrachtet man die Einsparungen der letzten Jahre, dann grenzt es fast schon an Zynismus, wenn Kulturdezernent Georg Girardet von einem „Schonraum“ spricht, in dem sich die Freie Szene in den vergangenen Jahren befunden hätte.
Als Reaktion auf die Einsparungen hat die Freie Szene einen „Weißen Januar“, das „konzentrierte Nicht-Stattfinden von Veranstaltungen“ (naTo-Chef Frank Elstermann) in naTo, Schaubühne Lindenfels und anderen Spielstätten, angekündigt. In der Januarausgabe des Kreuzers blieben deshalb viele Spalten bei den Veranstaltungshinweisen leer. Was kann eine solche Protestaktion bewirken?
Vor allem sollte sie wohl deutlich machen, dass der Lebensqualität in dieser Stadt auf maßgebliche Weise Schaden zugefügt wird, weil sich diese Lebensqualität nun einmal nicht über solche Aktionen wie die Olympiabewerbung definiert. Über deren Risiken und Chancen – sofern es denn welche geben sollte – wird überhaupt erstaunlich wenig in der Stadt debattiert. Gilt das Wort des OBM in dieser Frage als sakrosankt? In Berlin hat der Senat gerade einen Verzicht auf die Olympiabewerbung 2012 erklärt. Schlichte Begründung: Kein Geld. Vielleicht wäre es auch für Leipzigs Stadtoberen an der Zeit, sich einzugestehen, dass trotz der wunschdenkenbefördernden Werbekampagne „Leipzig kommt“ der Stadt für kostspielige Träumereien das Geld fehlt.
Ähnliches gilt für den geplanten City-Tunnel, dessen wirtschaftliche und stadtplanerische Daseinsberechtigung mehr als suspekt erscheint. Dient er tatsächlich einer Erhöhung der Lebensqualität Leipzigs oder ist es vielleicht nur ein regressives Modelleisenbahn-Syndrom aus Kindertagen, das das City-Tunnel-Modell so unwiderstehlich erscheinen lässt?
Hört man die Verlautbarungen aus dem Rathaus, dann sind die „Großen Drei“ der Leipziger Kultur – Oper, Gewandhaus und Schauspiel – von weiteren Etatkürzungen ausgenommen. Sie prägen das „Kultur-Image“ (Georg Girardet) der Stadt. Doch die bisherigen Kürzungen auch in diesem Bereich haben gerade die Außenwirkung der genannten Institutionen geschmälert. Auch wenn man jetzt einen neuen Superstar als Gewandhauschef in Aussicht gestellt hat, sind z.B. in der vergangenen Saison fast alle außergewöhnlichen Gastspiele den Sparzwängen zum Opfer gefallen. In dieser Saison sah es durch das Gewandhausjubiläum ein wenig besser aus, aber eine stete Adresse für die Welt-Tourneen der Spitzenorchester ist das Gewandhaus wahrlich nicht.
Bei der Oper deutet sich an, dass Henri Maiers Konzept, statt teurer Eigenproduktionen auch Kooperationen und Fremdproduktionen auf die Bühne am Augustusplatz zu bringen und das Repertoire vor allem mit einem hauseigenen jungen Ensemble zu bewältigen, gerade in den überregionalen Feuilletons mit unverhohlenem Spott belohnt wird.
Bleibt das Schauspiel. Intendant Wolfgang Engel hat viel Boden beim einheimischen Publikum gut gemacht, aber – mit Verlaub – ist es auch hier schwer, die von Girardet propagierte überregionale Wirkungsträchtigkeit zu erkennen – sofern man den wenig berauschenden Besprechungen von einigen der letzten Inszenierungen in der überregionalen Presse glauben darf. Insofern muss man auch in Bezug auf das „Kultur-Image“ sagen, dass schon die bisherigen Kürzungen mehr Schaden angerichtet haben als sich durch einen diesjährigen Kürzungsverzicht wieder schönreden ließe.
Man wird sehen, wie die Reaktionen auf den „Weißen Januar“ ausfallen. Glaubt man Herrn Giradets Worten in einem KREUZER-Gespräch („Es wird alles noch schlimmer. Die Stadt wird 2001 ein Defizit von über 100 Millionen einfahren. Das muss spätestens 2003 ausgeglichen werden“), dann ist ohnehin die Zukunft nur noch fatalistisch zu sehen. Vielleicht wird Gewandhaus-Direktor Andreas Schulz ja seine Plakataktion vom vergangenen Herbst wiederholen, wo zu lesen war: Danke Leipzig. Diesmal aber mit dem Nachsatz: „Das war’s!“
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