Aus dem Schatten der großen Namen

Rückblick auf das erste Gesprächskonzert der Reihe „Leipziger historische Konzerte. Das unbekannte Tagwerk der Romantik”

Fünf vor 11 Uhr sind die achtzig Plätze im Musiksalon des Mendelssohn-Hauses bereits besetzt; zum Glück sind die Räume durch breite Flügeltüren verbunden, so daß auch Nachzügler im Nebenraum nicht ausgeschlossen sind und die Sonntagsatmosphäre im historischen Saal mit Kronleuchter und Spiegel aufnehmen können.

Marcus Erb-Szymanski führt aus, daß die Konzertreihe sieben Streifzüge durch die Musikwelt des frühen 19. Jahrhunderts beinhalte. Interessante Komponisten sollen aus dem Schatten der wenigen heute noch bekannten großen Namen wie etwa Beethoven, Mendelssohn und Schumann geholt werden. Ausgangspunkt der Entdeckungsreise sei dabei die Allgemeine Musikalische Zeitung, die 1798 bis 1848 in Leipzig erschien, das europäische Musikleben dominierte und damit Einblick in ein Kapitel Musikgeschichte gewähre. Das heutige Konzert sei den Komponisten Anton Eberl (1765-1807) und Johann Baptist Cramer (1771-1858) gewidmet.

Die sich anschließende Grande Sonate g-Moll op. 27 des Mozartschülers Anton Eberl, fingerfertig vorgetragen von David Timm, bietet nach einer solchen Einführung Gelegenheit zum Sinnieren. Da sitzt man also im zeitreichen Ambiente unweit des Gewandhauses zwischen einem Publikum, das dem im Gewandhaus ähnelt (gepflegte Kleidung, Handtaschen, viele graue Köpfe, aber auch junge Leute), betrachtet die hellgrünen Wände und die Reaktionen der Zuhörer (ein Mann vor mir läßt seinen Fuß im Gang tanzen, wiegt mit Blick auf den Boden seinen Oberkörper; ein alter Mann daneben geht ebenso mit, sein Kopf schwingt unweigerlich), sieht und hört dem energischen Spiel zu, schaut ab und an ins Programmheft, um dem Gehörten die Worte Allegro, Andante und Presto zuzuordnen, und bewegt sich längst auf den Spuren der Zeit. Was wird warum vergessen, erinnert? Gibt es das zu Unrecht Vergessene? Wann hören wir etwas? Ist der Zufall am Vergessen ebenso beteiligt wie am Erinnern? Warum ist nun diese Sonate nicht berühmt; hat sie eine eigene Stimme, oder woran erinnert sie? Welchem Kunstwerk drückt die Mit- oder Nachwelt den Stempel „eigen“, welchem den Stempel „epigonal“ auf?

Nach dem ersten Stück Schweigen, 10 Sekunden, als könne das Klatschen die Stimmung zerstören. Dann kehrt der Pianist unter Applaus zweimal zurück. Erb-Szymanski zitiert eine Rezension in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung zur eben gehörten Sonate. Das Klavierstück habe, so die scharfe Kritik in der AMZ, „Vorteile für den Spieler, indem es auszuführen zwar nicht leicht, aber doch bey weitem nicht so schwer ist, als es scheint…“ Die Anmerkungen zur Sonate sind witzig, im Publikum wird gelacht. „Man kann dergleichen Arbeit keineswegs tadeln; sie vergnügt auch wahrscheinlich Jedermann für den Moment: aber es bleibt dem Zuhörer, der mit der Zeit fortgegangen, doch dabey ein Gefühl, als habe er sie schon öfters gehört, wiewol sie durchaus nicht eigentlich entlehnt ist.“

Es folgt die Grande Sonate E-Dur op. 62 des damals hochgeachteten Johann Baptist Cramer (1771-1858). Aufmerksam lauscht das musikkundige Publikum. Wird hier der richtige Ton getroffen, gibt es etwas wiederzuentdecken? Während die Gedanken abschweifen, scheint eines sicher: das gemeinschaftliche Musikerlebnis, die Atmosphäre schafft den Raum, nicht der Raum die Atmosphäre. Cramers Grande Sonate gefällt, erfahre ich später, nicht nur meinen Söhnen besser als die Sonate Eberls, der sie zu viele Wiederholungen und ein Nichtvollenden der musikalischen Entwicklungslinien vorwerfen. Gegen 12 Uhr liest Wolfgang Gersthofer auch zu Cramers Sonate eine Rezension aus der AMZ. Wieder erscheint die Frage, welcher Musik diese gleiche. Ist da Eigenes? Dann wünscht er „viel Spaß mit der Improvisation über Motive von Eberl und Cramer“, bevor David Timm ein letztes Mal gefordert ist.

Der Pianist, die Moderatoren und ihre schöne Idee der Kombination von Musik und Kritik werden stark beklatscht. Damit weder die Veranstaltung noch die Sonaten gleich wieder entfallene Vergangenheit sind: ein Text gegen das Vergessen.

Leipziger historische Konzerte. Das unbekannte Tagwerk der Romantik, Teil I

Virtuose Klaviermusik mit Sonaten von Anton Eberl und Johann Baptist Cramer
und Texten aus der Allgemeinen Musikalischen Zeitung

Klavier: David Timm
Moderation: Marcus Erb-Szymanski, Wolfgang Gersthofer

10. Februar 2002, Musiksalon des Mendelssohn-Hauses


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