Wagner für Eilige

„Der Ring“: Ein Abenteuer für Orchester

Zeit ist knapp, heute mehr denn je. Immer seltener kommt man dazu, einen umfangreichen Roman zu lesen, eine Oper von mehreren Stunden Dauer zu besuchen oder einfach einmal gar nichts zu tun. Doch dem Mann (und selbstverständlich auch der Frau) kann geholfen werden: Kleine Büchlein mit Titeln wie „Seneca für Gestresste“ oder „Platon für Manager“ ersparen nicht nur viel Lesezeit, sie nehmen einem sogar das eigene Denken ab. Theaterabende wie „Shakespeares sämtliche Werke, leicht gekürzt“ bieten dem Publikum das obligatorische „Sein oder Nichtsein..“, ohne dass es lange darauf warten muss. Auch in der Musik sind ähnliche Tendenzen zu beobachten. CDs wie „Beethoven zum Bügeln“ oder „Bach zum Baden“ sind deutliches Ergebnis einer ausgreifenden Appetithäppchen-Strategie. Bevor diese Zeilen als kulturpessimistisches Lamentieren missverstanden werden: Diese Haltung ist keineswegs neu. Opernquerschnitte, Bearbeitungen beliebter Musikstücke für Klavier zu vier Händen, Wunschkonzerte: Schon immer machten die beliebtesten Teile einer Komposition dieser selbst Konkurrenz, traten im öffentlichen Bewusstsein sogar oft an deren Stelle.

Im heutigen Konzert gibt es nun also Wagners „Ring“ in einer Stunde. Ist das überhaupt möglich? Die Antwort ist ebenso einfach wie unerheblich: ein klares Nein. Einfach ist diese Antwort deshalb, weil man einer knapp siebzehnstündigen Operntetralogie selbstverständlich nicht in einer Stunde gerecht werden kann, weil einige orchestrale Highlights natürlich niemals ein Ersatz für das aus Wort, Musik und Bild bestehende Wagnerische Gesamtkunstwerk sein können. Unerheblich ist diese Erkenntnis deshalb, weil Henk de Vlieger in seinem „Best Of“ genau das auch gar nicht will. Augenzwinkernd reiht er die berühmtesten Passagen des „Rings“ in originaler Abfolge an einander, lässt einen Effekt auf den anderen folgen, wobei er die recht dezenten Überleitungen selbst komponiert hat. Durch die von Wagner angelegten thematischen Rückbezüge gegen Ende der letzten Oper (der „Götterdämmerung“) erhält de Vliegers Potpourri sogar eine gewisse Geschlossenheit. Aufgehen kann ein solches Konzept jedoch nur, wenn die Aufführungsbedingungen stimmen. Und nach anfänglichen Problemen im“Rheingold“-Vorspiel kommt das MDR Sinfonieorchester unter Fabio Luisi richtig in Fahrt, bietet all seine Energie auf, um diesem musikalischen Parforceritt gerecht zu werden. Da gibt es fantastische Soli zu hören, da singen die Streicher, dass es eine Freude ist. Auch Luisi geht bis ans Limit und spornt sein Orchester immer wieder mit ausladenden Gesten zu Höchstleistungen an. Kleinere Unstimmigkeiten verschwinden da fast im Getümmel, versinken nahezu ungehört in den Tiefen des Rheins.

„Ein Abenteuer für Orchester“ lautet der Untertitel zu de Vliegers „Ring“-Zusammenschnitt. Ebenso gut hätte er aber auch auf Richard Strauss‘ Tondichtung „Don Quixote“ gepasst. Mit einer ähnlich ausufernden Orchesterbesetzung wie bei Wagner (sogar mit Windmaschine!) und höchsten Anforderungen an die Musiker wird eine Aufführung dieser sinfonischen Variationen nicht gerade zum Spaziergang. Die Orchestersolisten Matthias Sannemüller (Viola) und Rodin-George Moldovan (Violoncello) beweisen, dass es nicht unbedingt nötig ist, für viel Geld hochrangige Solisten zu verpflichten, wenn man solche in den eigenen Reihen hat. Nach einer zu Anfang etwas spröden Klanggebung findet Moldovan bald zu seiner Form, Sannemüller ist ihm ein solider Partner. Anders als der Titelheld, Don Quixote, erweist sich das MDR Sinfonieorchester keineswegs als Klangkörper „von der traurigen Gestalt“ und lässt Luisis zugleich straffes und auf Differenzierung ausgerichtetes Dirigat nicht zum aussichtslosen Kampf gegen Windmühlen geraten.

Richard Strauss (1864-1949):
Don Quixote op. 35

Richard Wagner (1813-1883) / Henk de Vlieger (geb. 1953):
The Ring -ein Abenteuer für Orchester

MDR Sinfonieorchester
Matthias Sannemüller, Viola
Rodin-George Moldovan, Violoncello

Dirigent: Fabio Luisi

7. April 2002, Gewandhaus, Großer Saal

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