Die Welt vor Dukla

Buchempfehlung von Andrzej Stasiuk

Zahlensymbolik, wohin des Lesers Auge blickt. Neun ist Andrzej Stasiuks neunter Roman. Neun Figuren geben der Geschichte ihren Rahmen. Seit einigen Jahren lebt Stasiuk in einem Dorf in den Beskiden. Bevor er sich dort ansiedelte, gab es acht Häuser in dem kleinen Weiler. Richtig: Sein Haus wurde das Neunte. Auch sonst begegnet man in Neun vielen Zahlen – Nummern von Straßenbahnen und Bussen, gleich einer Kartographie Warschaus.

Mit Neun kehrt Stasiuk an den Ort zurück, den er mit Die Welt hinter Dukla verlassen hatte: Warschau. Neun Existenzen begegnen sich, trennen sich, laufen sich über den Weg. Und sei es nur in Form eines zufälligen Autounfalls. Nicht alle werden diese Begegnungen unbeschadet überstehen. Schon in seiner kurzen Autobiographie Wie ich Schriftsteller wurde hat Stasiuk an eine Vergangenheit erinnert, die vor allem im Osten Deutschlands bereits weitestgehend der Vergessenheit anheim gefallen sein dürfte. Dabei geht es Stasiuk nicht um eine sentimentale Verklärung der damaligen Verhältnisse. Vielmehr geht es darum, die kleinen Episoden des sozialistischen Alltags zu beschreiben, die heute manchem so unwahrscheinlich und absurd erscheinen, dass man sie nicht glauben möchte. Und so sind Wie ich ein Schriftsteller wurde und Neun vor allem auch Texte, die die ökonomische Kolonialisierung des Ostens beschreiben, wie Stasiuk die post-sozialistischen Jahre einmal bezeichnete.

Aber diese Kolonialisierung hat nicht nur Gewinner hervor gebracht. Besonders den Verlierern, Enttäuschten, Gestrandeten, Suchenden räumt Stasiuk einen Platz in seiner Geschichte ein. So etwa Pawel, der einen bescheidenen Textilhandel aufgebaut hat, plötzlich vor den Trümmern seiner Existenz steht und dringend zweihundert Millionen Zloty auftreiben muss. Oder Packer, der sich in Rückblenden immer wieder an frühere Jahre, vergangene Deals erinnert, und der – so scheint es – noch immer seinen Platz im Heute sucht.

Wie beiläufig unternimmt Stasiuk eine Reise durch Warschau, die abseits aller ausgetretenen Sightseeing-Pfade liegt. Triste, verwahrloste Wohnsilos, Industriebrachen, Bahnhöfe, Himmel über Warschau in allen Farbtönen. Dazwischen immer wieder kurz auftauchend, wie Scheinwerfer aus dem Nebel, die Busse, Züge oder Straßenbahnen. Stasiuk zieht den Leser wie mit einer imaginären Hand in die Handlung, dem kann man nicht entkommen. Seine Beschreibungen sind so eingängig, dass man am liebsten hinfahren möchte, um diesem Warschau nachzuspüren. Einziger Wermutstropfen: man wird es wohl kaum noch finden. Vielleicht hilft ja auch ein einfacher Stadtplan, um die Orte und Buslinien abzufahren, wo Pawel, Bolek, Packer und die anderen sich herumgetrieben haben.

Andrzej Stasiuk: Neun
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2002
320 S., 22,90 €

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