Guido Fackler: „Des Lagers Stimme. Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936.“
Zum Thema Musik in Konzentrationslagern fällt dem avancierten Leser von heute nicht mehr nur das Lied der Moorsoldaten, das Dachaulied oder die Kinderoper Brundibar von Hans Krasa ein. Mit Teilbereichen haben sich in den vergangenen drei Jahren etwa Stefan Stompor (Jüdisches Musik- und Theaterleben unter dem NS-Staat. Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik, hg. von Andor Izsák, Hannover 2001), Michael H. Kater (Die missbrauchte Muse. Musiker im Dritten Reich, München 1998) oder Herbert Thomas Mandl beschäftigt.
Bekannt ist, dass sich unter den Extrembedingungen des Lagers ein in seiner Komplexität von den geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen bislang kaum analytisch erforschter Lageralltag mit hierarchischen Strukturen, festgelegten Regeln und Normen, spezifischen Kommunikationsformen, Wertesystemen und Verhaltensweisen, kulturellen und künstlerischen Äußerungen entwickelt. Das Musizieren wurde fast zwangsläufig, so Fackler, zu einem konstruktiven Bestandteil der täglichen Lagerroutine. Warum? Die Häftlinge bedienten sich der Musik, denn diese diente häufig als Mittel geistigen Widerstandes und mentaler Überlebenshilfe, um den grausamen Lageralltag zu transzendieren und zu überstehen.
Anhand vieler konkreter Einzelfälle, auf der Basis von Gesprächen mit Zeitzeugen und durch immense Recherchen in Archiven und Bibliotheken befasst sich die vorliegende Studie mit den unterschiedlichen Formen und ambivalenten Bedeutungsgehalten von Musik in den frühen Konzentrationslagern. Fackler, der versucht, zu den Aussagen der Befragten möglichst häufig eine zweite unabhängige Quelle ausfindig zu machen, die das Gesagte verifiziert (was jedoch infolge des gewählten frühen Zeitraumes nicht immer gelingen konnte), erreicht dabei eine sehr differenzierte, angemessene Wortwahl.
Zur Gliederung: Nach der fast 50 Seiten langen Einleitung widmet sich das Kapitel I den nationalsozialistischen Konzentrationslagern der Jahre 1933 bis 1936, wobei viel ungehobenes Material verwendet werden konnte, weil diese Zeit bislang so vernachlässigt wurde. Auf diesen Ergebnissen aufbauend wird danach von Fackler der Versuch einer lagerübergreifenden, nicht auf einzelne Musikgattungen fixierten Gesamtdarstellung musikalischer Aktivitäten von KZ-Häftlingen (gelang gut) unternommen. Vor dem Hintergrund der historischen Prozesse, der Haftbedingungen und der Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft werden in Kapitel II und III Genese, Entwicklung und Struktur des Musizierens in den Konzentrationslagern der ersten Phase des KZ-Systems so umfassend, wie es die Quellenlage zulässt, in ihren musikalischen, kulturellen und psycho-sozialen Dimensionen untersucht. Fackler ist Völkerkundler (studierte auch Musikwissenschaft und Ethnologie), daher stellt er vor allem den internierten Menschen in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Aus einem kulturgeschichtlich und kulturanalytisch orientierten Blickwinkel werden die Formen und Ausprägungen, die Rahmenbedingungen und die sich bietenden Aktionsräume sowie die verschiedenartige Funktionalisierung und gruppenspezifische Bedeutung des Musizierens im Lageralltag analysiert.
Im Zusammenhang mit dem Musizieren, das nicht selten von oben befohlen wurde, behandelt das Kapitel II speziell die demütigenden musikalischen Empfangszeremonien für Neuankömmlinge, die Praxis des befohlenen Gesangs, das Repertoire verordneter Lieder, Musikübertragungen aus Lautsprechern, die Zusammenstellung von Lagerchören und Lagerkapellen aus Inhaftierten sowie die Funktionalisierung von Musik für Propagandazwecke. Aufgrund des äußeren Anlasses, der verschiedenen Struktur, Organisationsform und Reichweite konnte Fackler mehrere Grundformen freiwilliger Musikausübung feststellen: die musikalische Gestaltung von Gottesdiensten, das spontane Musizieren, private und konspirative Feiern sowie lagerweite Kulturveranstaltungen. Mit den KZ-Liedern im engeren Sinne und den KZ-Hymnen schufen die Gefangenen zudem eine eigenständige, ihre ehemaligen kulturellen Traditionen fortsetzende und dennoch den lagerspezifischen Bedürfnissen adäquate künstlerische Ausdrucksform.
Die in den beiden Kapiteln II und III behandelten Formen und Bedeutungen des Musizierens werden in Kapitel IV zusammenfassend analysiert. Hinsichtlich der Musik auf Befehl werden insbesondere der Einfluss der Militärmusik und die unterschiedlichen Motive der Bewacher hervorgehoben. Im Anschluss daran geht es um die grundlegenden Züge von Musik in den Konzentrationslagern der Jahre 1936/ 37 bis 1945, kam es hier doch zu einer starken Ausweitung befohlener musikalischer Aktivitäten. Fackler zeigt, dass die Einrichtung von Lagerkapellen im Zusammenhang steht mit der Internationalisierung der Häftlingsgesellschaft, der Ausweitung der Macht der Funktionshäftlinge sowie dem verstärkten Einsatz von Gefangenen zur Zwangsarbeit.
Eine Erkenntnis des Buches ist die, dass der kaum überschaubare Lagerkosmos aus sehr unterschiedlichen Lagerkategorien bestand, und dass Musik nicht nur in den Konzentrationslagern, sondern ebenso in den meisten anderen Lagern des NS-Lagersystems eine feste Komponente des Lageralltags darstellte. Als Beispiele dafür dienen etwa das Sammellager Gurs, das polizeiliche Durchgangslager Westerbork sowie die Ghetto-Lager von Warschau, Wilna, Lódz und Theresienstadt. Dabei waren die musikalischen Binnenverhältnisse sowohl vom jeweiligen Lagertyp als auch von der spezifischen Lagergeschichte abhängig. Von Beginn an benutzte das NS-Regime in seinen Konzentrationslagern Musik für Propaganda- und Herrschaftszwecke.
Das Buch soll vor allem, so der Autor, an die Opfer erinnern und daran, wie sie an diesen Orten des völligen Ausgeliefertseins eigene Formen des Musizierens entwickelten. Geschrieben ist es verständlich, ohne allzu schwierige Fachausdrücke, und wenn einer erscheint, dann wird er sofort im ? zugegebenermaßen schier erschlagenden Fußnotenapparat ? nachgewiesen. Übrigens, der Titel ?Des Lagers Stimme‘ kommt aus Primo Levis Buch ?Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz‘: ?Märsche und Volkslieder, die jedem Deutschen lieb und teuer sind. Sie haben sich in unsere Köpfe eingegraben, und sie werden das letzte sein, was wir vom Lager vergessen sollen: des Lagers Stimme sind sie, der wahrnehmbare Ausdruck seines geometrisch konzipierten Irrsinns und eines fremden Willens?. Fackler hat des Volkes Stimme zur Warnung und Erinnerung wissenschaftlich konserviert.
Guido Fackler, Des Lagers Stimme. Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933 bis 1936. Mit einer Darstellung der weiteren Entwicklung bis 1945 und einer Biblio-/ Mediographie, (=DIZ-Schriften, herausgegeben vom Dokumentation- und Informationszentrum Emslandlager), Edition Temmen, Bremen 2000.
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