Überlebt, um zu schreiben

Semprun schöpft wieder auf eindringliche Weise aus seinem Leben

Das Erinnern ist eine zwiespältige Angelegenheit. Da gibt es die Erinnerungen, an die man noch viele Jahre später gerne zurück denkt. Auf der anderen Seite sind da die Ereignisse, über die zu sprechen oftmals unmöglich erscheint. Manch einem gerät die Erinnerung gar zu einer „Moralkeule“. Nicht selten bilden Erinnerungen aber auch das Fundament für die Entstehung von Nationen. Teilweise mythisch verklärt und oft Rückzugsort für geschundene Seelen. Der französische Soziologe Maurice Halbwachs hat dieses Phänomen in seinem Buch Les Cadres sociaux de la mémoire beschrieben. Halbwachs war Jorge Sempruns Lehrer an der Sorbonne in Paris gewesen. 1944 haben sie sich wieder getroffen – im Konzentrationslager Buchenwald. Halbwachs starb, Semprun überlebte.

Von der Schwierigkeit des Erinnerns, der Zerrissenheit, die tagtäglich wie ein Schatten folgt, hat Jorge Semprun schon in seinen früheren Büchern berichtet. Besonders in ?Schreiben oder Leben? (Suhrkamp 1995) erzählt Semprun davon, wie das Schreiben ihn zurück in das Leben holte. Dabei hatte sich der spanische Autor lange dem Erinnern widersetzt. Andere, wie Primo Levi, haben nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager begonnen, ihre Erlebnisse aufzuzeichnen, um überleben zu können.

In Der Tote mit meinem Namen greift Semprun Details aus früheren Büchern auf. Vor allem in Die lange Reise und Was für ein schöner Sonntag sind bereits Figuren und Ereignisse aus Sempruns Gefangenschaft im Konzentrationslager Buchenwald bewegend und eindringlich für die Nachwelt geschildert. Bekannt ist auch die Geschichte, die Sempruns jüngstem Buch den Namen gegeben hat. Aus Berlin trifft eine Anfrage über den Verbleib Sempruns in Buchenwald ein. Normalerweise bedeutete ein solches Interesse der SS das Schlimmste. Die illegale kommunistische Lagerleitung beschließt, Semprun auf dem Papier sterben zu lassen, und ihn den Namen eines gleichaltrigen, todgeweihten französischen Studenten annehmen zu lassen.

Trotz der furchtbaren Entbehrungen, der Hungerqualen, des täglichen Sterbens ist Der Tote mit meinem Namen ein klarer, nüchterner Blick auf das Lagerleben. Semprun berichtet von einer Bibliothek, einem Kino, einer Theatergruppe. Für diese Beschreibungen ist er teilweise heftig angegriffen und des Beschönigens bezichtigt worden. Sicherlich waren, und das wird in Sempruns Buch deutlich, nicht alle Häftlinge gleich. Auch Semprun gehörte zu denen, die eine der begehrten Arbeitsstellen in der Lagerverwaltung einnahmen. Doch zunächst bedeutete das nur, vor den mörderischen Arbeitskommandos sicher zu sein.

Semprun beschreibt die Hierarchien des Lagerlebens. Da sind die prominenten Kommunisten, für die das Lager 1944 „fast ein Sanatorium“ ist. Ganz am anderen Ende stehen die „Muselmanen“, Häftlinge, die zu schwach zum Arbeiten sind, und nur darauf warten, vom Tod erlöst zu werden. Sie stehen bereits außerhalb der Lager-Dichotomien, weil sie schon nicht mehr unter den Lebenden weilen. Und so stößt es im Umfeld Sempruns auf offenes Unverständnis, wenn er am einzigen freien Tag, dem Sonntag, seine Zeit bei seinem Lehrer Maurice Halbwachs verbringt, einem „Muselmanen“.

Kurze Zeit später stellt sich heraus, dass die Anfrage aus Berlin harmlos gewesen ist. Sempruns Vater, ein früherer Diplomat, hatte über den spanischen Botschafter, um Informationen über seinen nach Deutschland deportierten Sohn gebeten. Semprun wird einem inquisitorischen Verhör durch die kommunistische Lagerleitung unterzogen. Nach dem Krieg wurden die ehemals Verhörenden selber zu Verhörten, wie ein tschechischer Mithäftling und Freund Semprun viele Jahre später erzählt. Denn viele Häftlinge aus der Lager-Elite, der Kollaboration bezichtigt, haben die stalinistischen Säuberungs-Prozesse nach dem Krieg nicht überlebt.

Viel häufiger als in seinen anderen Büchern lässt Semprun in seinem neuen Roman spanische Redewendungen einfließen. Am liebsten, so schreibt er an einer Stelle, hätte er das Buch auf Französisch und Spanisch geschrieben. Seiner Meinung nach hat ihn der Kontakt mit anderen spanischen Häftlingen wieder zurück zur spanischen Sprache gebracht, nachdem er in Paris zur Schule gegangen war (und Deutsch gelernt hatte). So sagte er: „Wenn ich nicht in Buchenwald mit so vielen spanischen Leidensgenossen gewesen wäre, hätte mein Leben wahrscheinlich einen anderen Verlauf genommen, wäre ich wohl nicht in den spanischen Untergrund gegangen, hätte die französische Nationalität übernommen und wäre schon früher französischer Schriftsteller und nicht vorher spanischer Politiker geworden.“

Sempruns Roman ist ein Buch der Anekdoten. Anekdoten, die eines wollen: Den Namenlosen ein Gesicht geben, ohne die sein Überleben vielleicht nicht möglich gewesen wäre. In diesem Sinne ist es ein Appell an die Humanität und die Aufforderung, Erinnerung niemals zu einer „Moralkeule“ werden zu lassen.

Jorge Semprun: Der Tote mit meinem Namen
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002
202 Seiten, 18,90 €

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