Zwischen Nationalismus und Weltoffenheit – polnische Musik im Gewandhaus

Das MDR-Sinfonieorchester mit Werken von Karlowicz, Szymanowski und Tschaikowski

Am 9. Februar 1909 wurde der erst 33-jährige Mieczyslaw Karlowicz von einer Lawine in den Tod gerissen. Die Aufführung seiner „Litauischen Rhapsodie“ op. 11 durch das MDR Sinfonieorchester unter Antoni Wit machte deutlich, welch einen Verlust dieser Unfall für die Musik bedeutet, nicht nur in Polen. Allein schon wegen dieses Komponisten versprach das Konzert eine spannende Entdeckungsreise zu werden.

Die „Litauische Rhapsodie“ ist ein von elegischer Grundstimmung geprägtes Werk. Die ersten vier der insgesamt fünf Abschnitte variieren in je eigener Weise das Thema Melancholie, schwelgen genüsslich in volkstümlichen Melodien, ohne jedoch jemals banal oder kitschig zu wirken. Sie sind eng mit einander verbunden, sind Ausdruck einer gemeinsamen Ausgangshaltung. Der fünfte und letzte Abschnitt hebt sich davon leider durch aufgesetzte, biedere Fröhlichkeit ab und zerstört damit auf einen Schlag alles bisher an Atmosphäre Aufgebaute. Daran ändert auch der Schluss nichts mehr, der zur Sphäre des Anfangs zurück leitet. Trotzdem: Die Ansätze motivisch-thematischer Arbeit, die delikate Instrumentation und eine fast überall greifbare Individualität sind klare Kennzeichen einer Musik, die zu Unrecht vergessen wurde.

Das Orchester tat Karlowicz allerdings keinen Gefallen. Durch mangelnde Konzentration im Ganzen und Ungenauigkeiten im Einzelnen wurde viel Schönes verschenkt. Antoni Wit dirigierte recht zurückhaltend, mit Eleganz und weltmännischer Gelassenheit. Das beeindruckte an sich durchaus. In diesem Fall wäre ein wenig mehr Druck von seiner Seite aber vielleicht angebrachter gewesen.

Diese Probleme im Orchester bestanden bei Karol Szymanowskis „Symphonie Concertante“ für Klavier und Orchester zwar ebenfalls, der exorbitant schwierige Klavierpart bot hier allerdings genügend Ablenkung. Piotr Paleczny entfesselte einen pianistischen Sturm nach dem anderen und zog damit alle Augen und Ohren auf sich. Schade eigentlich; denn der Orchesterpart dieses verkappten Klavierkonzerts enthält viele originelle Einfälle. Im Mittelsatz wird verständlich, warum Szymanowski manchmal als „polnischer Debussy“ bezeichnet wurde, doch auch Assoziationen an Ravel stellen sich ein. Der Finalsatz ist zwar klaviertechnisch jenseits von Gut und Böse, aber dennoch kein typisches pianistisches Bravourstück. Erwartungsgemäß fiel der Applaus auch eher freundlich als begeistert aus.

Hatte Roger Norrington kürzlich das Publikum mit Brahms geködert, um ihm „seinen“ Vaughan Williams nahe zu bringen, so folgte in diesem Konzert auf den polnischen Teil Cajkovskijs unverwüstliche vierte Sinfonie und damit ein Publikumsmagnet erster Klasse. Um es kurz zu machen: Das Publikum bekam, was es wollte. Die Aufführung war zwar keine Offenbarung, wusste zeitweilig aber doch mitzureißen. Besonders gut gelang das Scherzo (ohnehin wahrscheinlich der beste Satz der Sinfonie). Und nach der ohrenzerschmetternden Kaskade von Tuttischlägen am Ende des Finalsatzes folgte der Jubel wie das Amen in der Kirche.

MDR Sinfonieorchester
Dirigent: Antoni Wit

Solist: Piotr Paleczny, Klavier

Mieczyslaw Karlowicz: Litauische Rhapsodie op. 11
Karol Szymanowski: Sinfonie Nr. 4 op. 60
Pëtr Iljic Cajkovskij: Sinfonie Nr. 4 f-Moll op. 36

28.4.2002, Gewandhaus, Großer Saal

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.