Schattengewächse

Bachfest: Das MDR-Sinfonieorchester mit Werken von Haydn und Bach-Söhnen

Dass es im Verlauf der Musikgeschichte nicht immer gerecht zugeht, zeigt sich oft erst im Rückblick. Häufig sind hervorragende Komponisten in völlige Vergessenheit geraten, nur weil sie das Pech hatten, zu Zeiten eines Ludwig van Beethoven zu leben, eines „Großen“ also, der durch seine öffentliche und wissenschaftliche Wertschätzung und Verehrung bald alles andere neben sich vergessen ließ. Ein schweres Los hatten und haben auch die Nachkommen berühmter Persönlichkeiten gezogen, denen die elterlichen Fußstapfen leicht zu groß sein konnten. Beliebt ist in diesem Zusammenhang auch das Bild von der kleinen Pflanze, die durch den langen Schatten einer größeren nicht genug Licht bekommt, um sich gesund zu entwickeln.

Treffen diese Aussagen auf die komponierenden Söhne J. S. Bachs ebenfalls zu? Nun, was die Einschätzung durch spätere Generationen angeht, sicherlich. Betrachtet man aber die Wertschätzung, die vor allem Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Christian Bach zu Lebzeiten genossen, so ergibt sich ein völlig anderes Bild; denn während der „alte Bach“ längst als altmodisch galt, genossen die Söhne höchstes Ansehen. Zum Glück sind die Bemühungen, diese Musik auch dem heutigen Publikum nahe zu bringen, bereits seit einigen Jahrzehnten im Gang. Im heutigen Konzert, einem Beitrag des MDR zum Bachfest, sind die Werke zweier Bach-Söhne geschickt zwischen zwei populären Haydn-Sinfonien versteckt. Es ist ein bisschen wie bei einer Praline, die ja die Überraschung auch oft in ihrem Innern verbirgt. Doch zur „Füllung“ später mehr.

Zunächst gibt es also Haydn, genauer gesagt, seine so genannte „Trauersinfonie“. Über die Bedeutung von Namen herrscht in den Redensarten keine Einigkeit. So heißt es auf der einen Seite zwar, Namen seien „Schall und Rauch“, auf der anderen Seite aber: „Nomen est omen.“ Im Fall der gar nicht allzu traurigen „Trauersinfonie“ trifft eher die Schall-und-Rauch-Theorie zu. Vergessen wir also solche Anekdoten wie die von Haydns angeblichem Wunsch, das „Adagio“ solle bei seiner Trauerfeier gespielt werden, und lassen wir die Taschentücher stecken, um zu sehen, was musikalisch passiert; denn Trauer hin, Trauer her – was das MDR Sinfonieorchester und Dirigent Bruno Weil auf die Beine stellen, macht einfach Spaß. Schon den Unisono-Beginn des ersten Satzes gestalten sie in seiner ganzen herben Schönheit aus, ebenso den sich anschließenden Sonatensatz, wobei sie gekonnt die Balance zwischen stürmischer Virtuosität und geschmackvoller Detailfreude halten. Von dieser Balance lebt auch der zweite Satz, ein an ungewohnter Stelle stehendes, dunkel getöntes Menuett, dessen Trio eine leichte Aufhellung bringt. Der dritte Satz ist eher lieblich als traurig zu nennen. Er strahlt in berührender Weise ruhige Anmut aus, lebt ganz aus dem Klang. Weil erreicht mit dem Orchester einen wunderbar zarten Orchesterklang, wenn er darüber auch manchmal den Faden der Entwicklung etwas aus der Hand verliert. Ein zwischen Schroffheit und Eleganz changierender Finalsatz setzt dem Ganzen die virtuose Krone auf und stellt dem Orchester ein hervorragendes Zeugnis in Sachen orchestraler Disziplin aus.

Die Solokonzerte Carl Philipp Emanuel Bachs sind längst nicht so bekannt wie seine Klaviermusik, ganz im Gegensatz zu denen seines Bruders Johann Christian. (Offensichtlich gibt es die oben geschilderten Probleme auch im l´uvre eines einzelnen Komponisten.) Dass dieses zu Unrecht so ist, beweist Rafael Rosenfeld mit seiner Interpretation eines Violoncellokonzerts Carl Philipp Emanuel Bachs in geradezu bestechender Weise. Mit großer Einfühlung und elegant-warmem Ton sowie sichtbarer Spielfreude gestaltet er die gefälligen und charmanten Ecksätze, der Mittelsatz gerät zu einer einzigen Kantilene. Zum Gelingen trägt auch hier das Orchester bei, das durch sein zurückhaltendes Spiel dem Solisten genug Raum lässt. Das Zusammenspiel funktioniert dank der intensiven Kommunikation zwischen Rosenfeld und Weil hervorragend, so dass wirklich keine Wünsche offen bleiben.

Nach der Pause soll nun einem anderen Bach-Sohn Gerechtigkeit widerfahren, nämlich Wilhelm Friedemann Bach. Was vorhin sehr gut gelungen ist, scheitert hier an der Musik selbst. Weil dirigiert sichtlich engagiert, doch seine Bemühungen um Differenzierung und die redlichen Anstrengungen des Orchesters können leider nicht darüber hinweg täuschen, dass die Sinfonie ein sehr eigenartiges Werk ist. Stilistisch zwischen Alt und Neu schwankend, ergeht sie sich zu oft in austauschbaren Formeln. Das alles kann man sich ohne Probleme einmal anhören, eine große Zukunft möchte ich dieser Musik im Konzertsaal allerdings nicht prophezeien (und wünschen). Wenn es tatsächlich eine Musik gibt, die zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus geht, dann wohl diese.

Bei Haydns „Oxford“-Sinfonie haben wir es zum Schluss mit einem Werk zu tun, dem man nicht mehr auf die Beine zu helfen braucht. Sie gilt sogar als eine der besten Sinfonien Haydns, bildet sie doch ein Musterbeispiel formaler Ausgewogenheit. Doch die äußere Anlage ist nur die eine Seite: Ihren unwiderstehlichen Charme erhält die Sinfonie durch eine Fülle origineller Einfälle und Überraschungen sowie durch ihren musikantischen Gestus. Und letzteren haben die Musiker an diesem Abend verinnerlicht wie selten. Voller Witz und Elan kosten sie die spaßigen Ideen des Komponisten bis ins kleinste Detail aus. Durch eine Aufführung wie diese bekommt selbst ein bekanntes Werk wie dieses den Charakter einer Neuentdeckung. Ein schwungvoller Kopfsatz, ein wunderbar klangsinnlicher zweiter Satz mit dramatischem Einbruch in Moll, ein trotzig-schroffes Menuett: Dieses alles ist für sich genommen ganz fantastisch. Doch Haydn wäre nicht Haydn, wenn er nicht in einem mitreißenden Finale noch einmal ganz tief in die kompositorische Trickkiste greifen würde. Zum Glück ist Haydn aber Haydn, und so endet die Sinfonie mit einem vergnüglichen Kehraus, der auch Stunden nach dem Konzert in meinem Kopf als Ohrwurm sein Unwesen treibt. Dass diese Musik offensichtlich auch den Orchestermusikern großen Spaß macht, bringt letztlich allen Anwesenden etwas und lässt den Abend zu einem echten Highlight werden.

MDR Sinfonieorchester
Dirigent: Bruno Weil
Solist: Rafael Rosenfeld, Violoncello

Joseph Haydn: Sinfonie e-Moll Hob. I:44 „Trauersinfonie“
Carl Philipp Emanuel Bach: Violoncellokonzert A-Dur Wq 172
Wilhelm Friedemann Bach : Sinfonie F-Dur F 67
Joseph Haydn: Sinfonie G-Dur Hob. I:92 „Oxford“

Ein Mitschnitt des Konzerts wird am 17. Mai 2002 um 20.00 Uhr auf MDR Kultur übertragen.

5.5.2002, Gewandhaus, Großer Saal

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