Musikalische Ebbe(n)

Das MDR-Sinfonieorchester unter Fabio Luisi spielt Werke von William Blank und Gustav Mahler

Neben Zahnarztbesuchen und Eiern in Senfsauce gehören die weitschweifigen Erklärungen, welche heutige Komponisten ihren Werken mitgeben zu müssen glauben, zu den besonders unangenehmen Dingen des Lebens. Weder bedarf gelungene Musik solcher Zugaben, noch werten sie uninteressante Kompositionen auch nur im Geringsten auf. Ähnlich verhält es sich mit den „…Ebbe(n)“ für großes Orchester, die William Blank im letzten Jahr für das Orchestre de la Suisse Romande schrieb und die Fabio Luisi nun mit seinem zweiten Orchester, dem des MDR, erstmals in Deutschland aufführte. In seinen pseudophilosophischen Einleitungsworten schwadroniert Blank über die Ebbe als „Resonanz der Flut“, als „regelmäßiger Atem“, von der „Ebbe in uns selbst“ und lässt es sich nicht nehmen, auch noch auf die „großen menschlichen Gezeiten“ zu verweisen, womit er „Auswanderungen (Exodi), Verdrängungen oder Deportationen ganzer Völker“ meint. Diese und weitere wohlformulierte Plattheiten ändern aber leider überhaupt nichts an der Tatsache, dass die solcherart beschriebene Komposition im Konzert kaum überzeugen konnte. Ein sehr großes Orchester mit enormer Schlagzeugfraktion fährt Blank auf, und er nutzt dessen klanglichen Möglichkeiten immer wieder für originelle Einfälle. Im Ganzen stellt sich jedoch ein Gefühl der Leere und einer gewissen Beliebigkeit ein. Nach einigem Hin und Her beruhigt sich die Musik schließlich, verebbt sozusagen, und markiert damit nach den Vorstellungen des Komponisten ? man mag es fast nicht zitieren – den Übergang „von einer Welt des Sturmes zu einer Welt des Friedens“. Missgeschicke, wie z. B. ein versehentlich zu Boden fallender Gegenstand im Orchester, verstärkten die unfreiwillige Komik dieser deutschen Erstaufführung noch zusätzlich.

Nach der Pause gab es dann Mahlers Siebente zu hören, ein Werk ohne krampfhaft originellen Titel also, das aber dafür musikalisch eine Überraschung nach der anderen bietet. Ein seltsames Gebilde ist diese Sinfonie, ein Kaleidoskop verschiedenster musikalischer Stile und Ausdrucksgesten, zwar immer Mahler, aber ständig ein anderer. Ein solches Werk fordert von Dirigent und Orchester höchste Flexibilität und Nuancierungskunst, Tugenden, die an diesem Abend in begeisternder Weise verwirklicht waren. Fast möchte man von einer idealen Aufführung sprechen, es fehlte wirklich fast an nichts. Schon der erste Satz mit seinen prägnanten Soli und dem rastlos vorandrängenden Impetus erhielt unter Luisis ungewohnt exzentrischer Leitung (Körpereinsatz, Gespanntheit) eine ungeheuere Stringenz und entfaltete eine regelrechte Sogwirkung, der man sich kaum entziehen konnte. Die hervorragenden Leistungen der Orchestersolisten und der einzelnen Instrumentengruppen blieben erfreulicherweise auch in den folgenden vier Sätzen auf höchstem Niveau. Und was noch wichtiger ist: Jeder Satz bekam ein völlig eigenes Gepräge, wodurch die Heterogenität der musikalischen Mittel überzeugend zum Ausdruck kam – allerdings damit auch die problematische formale Gesamtanlage der Sinfonie. So wurde zum Beispiel die zweite „Nachtmusik“ (4. Satz) als das gespielt, was sie ist: ein Fremdkörper innerhalb der übrigen Sätze, aber ein wunderschöner. Das Scherzo (3. Satz) mit der ungewöhnlichen Bezeichnung „Schattenhaft“ lässt sich kaum dämonischer vorstellen, nicht zuletzt wegen der äußerst präzisen Ausführung, welche durch den oftmals punktuellen, zerrissenen Satz sehr erschwert wird. Selbst das Finale war an diesem Abend weit mehr als ein nichtssagender Lärm, nämlich der würdige Abschluss einer Mahler-Aufführung, die Lust auf mehr machte und die ohne Weiteres als vorbildlich bezeichnet werden kann, als ein Ereignis höchsten Ranges.

8. Rundfunkkonzert

MDR Sinfonieorchester
Dirigent: Fabio Luisi

William Blank: „…Ebbe(n)“ für großes Orchester (2001)
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 7

14.5.2002; Gewandhaus, Großer Saal

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