Eine Musikstadt blamiert sich

Dietrich Fischer-Dieskau,Rezitation, und Burkhard Kehring am Klavier geben Konzert im Gewandhaus mit Werken von Strauss

Wenn die sog. „jungen Tenöre“ und Anna Maria Kaufmann „die schönsten Melodien der Welt“ präsentieren (so die Programmankündigung), dann ist der Große Saal des Gewandhauses ohne Probleme voll zu kriegen. Wehe dem aber, der es wagt, parallel dazu eine Veranstaltung im Mendelssohn-Saal bestreiten zu wollen, noch dazu an einem sonnigen Tag wie diesem – er hat von Anfang an verloren, selbst wenn er Dietrich Fischer-Dieskau heißt und einen hochkarätigen Pianisten mitbringt. Gerade einmal fünfzig(!) Personen brachten es übers Herz, den Weltstar mit ihrer Anwesenheit zu beehren. Sicherlich muss bei einer Lesung der Saal nicht brechend voll sein, sicherlich war das Wetter für Konzerte fast zu schön – aber nur fünfzig? Und das bei einer Stadt, die sich so gern zu den traditionsreichen Musikstädten zählt… So weit, so schlecht. Was bekam aber nun das handverlesene Publikum als Lohn für seinen Akt der Barmherzigkeit zu hören?

Zunächst einmal gab es, als Einstimmung, vier Klavierstücke aus Richard Strauss‘ Jugendzeit. Diese wurden von Burkhard Kehring sehr subtil und mit viel Liebe zum Detail vorgetragen und konnten so ihren ganzen Charme zwischen zartester Intimität und augenzwinkerndem Esprit entfalten. Die atemlose Stille im Saal – ein Vorteil des oben beklagten Problems; die Störer waren offenbar bei den jungen Tenören – erhöhte die intensive Wirkung dieser delikat gestalteten Miniaturen noch.

Nach diesem Solovortrag gab es nun das eigentliche Hauptprogramm des Abends, das Melodram „Enoch Arden“, eine Komposition, die sicherlich zu den Ausnahmen der Musikgeschichte zählt. Gesprochener Text mit musikalischer Begleitung – eigentlich eine interessante Kombination. Dennoch kann man die Werke dieses Genres beinahe an den Fingern abzählen. Seine Zwischenstellung mag mit zu der Unbeliebtheit des musikalischen Melodrams beigetragen haben, ist es doch weder reiner Wortvortrag, noch ganz Musiktheater. In „Enoch Arden“ bleibt die Musik meistens im Hintergrund, längere erzählende Passagen werden völlig unbegleitet vorgetragen. Vor allem in den besonders schicksalsträchtigen Momenten der Handlung und in Passagen von psychologischer Bedeutung greift das Klavier in das Geschehen ein, markiert Wichtiges, verdeutlicht im Text angelegte Leitmotive und gliedert durch solistische Auftritte den Handlungsverlauf, indem es zum Beispiel zeitliche Abstände zwischen den Teilen des Melodrams überbrückt.

Die Handlung ist schnell erzählt: Enoch Arden und sein Freund Philip Ray lieben beide Annie Lee, mit der sie schon seit ihren Kindertagen befreundet sind. Annie heiratet Enoch und gründet mit ihm eine Familie. Persönliches Unglück zwingt ihn jedoch, gegen den Willen seiner Frau eine lange Schiffsreise anzutreten. Als Enoch nicht zurückkehrt, übernimmt Philip, der Annie noch immer liebt, die Familie, und mit der Zeit ist Enoch fast vergessen. Als er von der Insel, auf die es ihn verschlagen hat, gerettet wird und nach England zurückkehrt, bricht es ihm fast das Herz, als er seine Frau und seine Kinder in neuem Familienglück sieht. Seiner Frau zuliebe gibt er sich jedoch nicht zu erkennen, sondern lebt noch einige Zeit unerkannt im Ort. Erst auf dem Sterbebett bittet er seine Hauswirtin darum, Annie und ihre neuen Familie seines Segens und seiner Liebe zu versichern.

So fremd uns die Geschichte heute zum Teil auch ist, ihre Grundmotive betreffen Erfahrungen, die zeitlos sind. Zum Glück handelt es sich nicht allein um ein Hohelied auf christliche Werte wie Nächstenliebe und Selbstlosigkeit (wenn auch vor allem), sondern zugleich um ein spannendes Seelendrama, das Adolf Strodtmann aus der englischen Textvorlage, einer Verserzählung Alfred Tennysons, in klangvolle Worte übersetzte. Doch das ist erst die halbe Miete: Vor allem vom Vortrag hängt es ab, ob der Text es vermag, über hundert Jahre nach seiner Entstehung immer noch zu fesseln.

Dietrich Fischer-Dieskau machte seine Sache sehr gut. Stimmliche Modulationsfähigkeit und der Wille, selbst feinsten Bedeutungsnuancen nachzuspüren, ließen seinen Vortrag nie undifferenziert oder belanglos werden. Auch während der längeren unbegleiteten Passagen hing der Spannungsbogen nicht durch. Geschickt steigerte Fischer-Dieskau die Intensität, um im nächsten Moment zu retardieren, sich wieder zurückzunehmen. Durchaus unkonventionell betonte er manche Wörter, mitunter ganze Sätze, und hob sie damit teilweise fast aus ihrem Zusammenhang – um sie aber sogleich in einen neuen zu stellen und so einen Bedeutungshorizont zu eröffnen, der sich bei bloßer Lektüre gar nicht erschließt.

Allerdings schien mir manchmal ein Übermaß an Gestaltungswillen an recht harmlosen Stellen den Blick auf deren Schlichtheit, vielleicht auch Naivität, zu verstellen. So fasste Fischer-Dieskau gleich den Beginn als sehr gewichtig auf, obwohl es sich dabei nur um ein „Es war einmal…“ handelt. Nach der Szene, in der Enoch auf dem Sterbebett seine wahre Identität enthüllt und Annies neue Familie segnet, fuhr Fischer-Dieskau so brüsk im Vortrag fort, als wolle er alle Sentimentalitäten wegwischen und den Verdacht zerstreuen, es könne sich bei „Enoch Arden“ um ein kitschiges Rührstück handeln. Seine Rechnung ging in sofern nicht ganz auf, als das Melodram genau das wohl doch zum Teil ist. Dadurch geriet die gelegentliche Reserviertheit des Rezitatoren manchmal in Konflikt zu dessen sonstigem starken Engagement, das zeitweise bis an die Grenze zum Schrei vordrang. Aber vielleicht muss das gar kein Problem sein: Fischer-Dieskau hat eben einen bestimmten Blickwinkel auf das Werk gewählt und diesen konsequent verfolgt. Ihm kam es offenbar vor allem auf die sich abspielenden Konfliktsituationen an, so zum Beispiel Enochs Einsamkeit als Gestrandeter.

Denjenigen, die sich für eine völlig andere (weibliche) Sicht auf das Melodram interessieren, sei die Aufnahme mit Elisabeth Woska empfohlen, die ihre ganz eigenen Stärken und Schwächen hat. Eine endgültige Interpretation wird und kann es gar nicht geben; und wenn man ehrlich ist: Wer würde sich denn das auch wünschen? Dietrich Fischer-Dieskau und sein zuverlässiger Partner am Klavier, Burkhard Kehring, der die interessanten und vielgestaltigen Ausprägungen der wenigen verarbeiteten musikalischen Motive immer plastisch herausarbeitete, wurden zum Schluss mit begeistertem Applaus bedacht; aus wenigen Händen zwar, aber deshalb nicht weniger herzlich.

Richard Strauss:
Stimmungsbilder op.9 (Auf stillem Waldespfad; An einsamer Quelle; Träumerei; Intermezzo)
Enoch Arden. Melodram für Sprechstimme und Klavier op. 38

Dietrich Fischer-Dieskau, Rezitation
Burkhard Kehring, Klavier‘

2. Juni 2002, Gewandhaus, Mendelssohn-Saal

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