Natur pur

Ein Grosses Concert des Gewandhausorchesters unter Herbert Blomstedt mit Werken von Sibelius, Prokofjew und Dvorak

Kürzlich versuchte die Leipziger Volkszeitung zu erklären, warum es zwischen dem Gewandhausorchester und dem Sinfonieorchester des MDR so große Unterschiede hinsichtlich der Besucherzahlen gibt. Die Erklärung kann ganz einfach sein, wenn man sich ein Beispiel aus dem Fußball vor Augen hält: Da gibt es in Leipzig zwei Mannschaften, deren Fans, um es vorsichtig auszudrücken, eine herzliche Abneigung gegen einander hegen. Keinem von ihnen würde es einfallen, einfach einmal zu einem Spiel der jeweils anderen Mannschaft zu gehen. Das macht man einfach nicht. Und genauso ist es mit den beiden Orchestern. Beide haben über Jahrzehnte eine Fankultur entwickelt, die nicht einfach ignoriert werden kann. Wie das Gewandhaus seine „Fans“ mobilisiert, kann man wieder am Programm dieser Woche beobachten. Man nehme zwei Werke von bekannten und beliebten Komponisten, die jedoch etwas seltener auf dem Spielplan stehen, garniere sie mit einem richtigen Evergreen der sinfonischen Musik – und schon ist der Große Saal voll…

„Da dehnen sich des Nordlands düstre Wälder, Uralt-geheimnisvoll in wilden Träumen; In ihnen wohnt der Wälder großer Gott, Waldgeister weben heimlich in dem Dunkel.“ Diese Zeilen stellte Sibelius seinem letzten sinfonischen Werk voran, in welchem er sich auf die Suche nach dem Reich Tapio und seinem Herrscher, dem Waldgott Tapiola, machte. Und die Natur ist in jedem Ton gegenwärtig. Die Flöten und Oboen hallen wie ein Echo von den Bergen wider. Das Gefühl, allein in diesem dunklen Reich zu sein, stellt sich ein – wohl auch bei den Trompetern, die zusammengerutscht auf ihren Stühlen sitzen, nicht wissend, was sich hinter dem nächsten Baum verbergen mag. Blomstedt versucht, seine Geister mit aufgeblähten Backen anzuspornen, was aber nicht auf Anhieb gelingen will, so dass die Musik eher dahinplätschert. Erst als die Hörner beginnen, aus den Tiefen des Waldes heraus ein dumpfes Signal zu geben, und die Trompeten mit dem Schlagzeug heftig um die akustische Oberhoheit kämpfen, kommt Stimmung auf. Die Violinen antworten auf die Herausforderung mit einer Sequenz im hohen Frequenzbereich, was die Ohren ziemlich strapaziert. Die Bögen rasen in irrer Geschwindigkeit über die Saiten, aber auch die Trompeten und das Schlagzeug geben sich nicht einfach geschlagen. Es klingt, als ob ein riesiger Heuschreckenschwarm in den Großen Saal eingefallen sei. Langsam verhallen die letzten Akkorde, und es kehrt wieder Ruhe im Wald ein.

Die Uraufführung von Prokofjews Violinkonzert fand im Oktober 1923 in Paris statt. In Erwartung eines Skandals hatte sich eine illustre Gesellschaft in der Pariser Oper eingefunden. Hinterher war die Enttäuschung über das Werk groß. Die Kritiker warfen ihm „Mendelssohnismen“ vor (eigentlich nicht der schlechteste Vergleich, der einem Violinkonzert zuteil werden kann). Schon die ersten Akkorde Zehetmairs bezaubern. Zerbrechlich wie Eiskristalle springen die Töne in den Saal. Die Musik hat manchmal fast etwas Zigeunerhaftes. Die Flötistin wirft ihr Netz aus, und Zehetmair lässt sich gerne darin fangen – wunderbares Zusammenspiel. Dann gibt es wieder einen Tempowechsel, wie bei einem Rennwagen, der vor einer Kurve abrupt abbremsen muss. Zehetmairs Violine vibriert förmlich. Und sein Gesichtssausdruck scheint zu sagen: „Siehst Du, nun habe ich doch so gespielt, wie ich wollte.“ Während im zweiten Satz Passagen dabei sind, die fast verstörende Züge haben und die dem Solisten alles abverlangen, kehrt das Finale wieder zum romantischen Beginn zurück.

Mit Dvoráks 8. Sinfonie, seiner vorletzten, endet der unterhaltsame musikalische Abendspaziergang im Wald. Dvorák komponierte sie auf seiner Sommerresidenz, wo er „von aller Welt abgeschlossen war“ und sich ganz der Natur hingeben konnte. Gesetzt und geheimnisvoll wird der erste Satz eröffnet. Die Flöte intoniert das Hauptthema, welches wie eine Quelle hervorsprudelt. Die Streicher verbünden sich mit den Holzbläsern und erzeugten eine Stimmung, die den Hörer in ihren Bann zieht. Das Orchester spielt wie entfesselt. Ein „Wahnsinn“ lässt sich aus einer hinteren Reihe vernehmen. Walzerhaft kommt der dritte Satz daher. Noch einmal hat das Orchester Gelegenheit, einen großen samtenen Klangteppich auszubreiten. Im Schlusssatz dominiert ein folkloristisches Thema, dem sich die Hörner mit ihren skurrilen Trillern zu widersetzen scheinen. Eine Trompetenstoß durchschneidet die Luft, und mit einem Luftsprung beendet Blomstedt den Abend.

Gewandhausorchester

Dirigent: Herbert Blomstedt
Solist: Thomas Zehetmair, Violine

Jean Sibelius, „Tapiola“ op. 112
Sergej Prokofjew, 1. Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 19
Antonín Dvorák, 8. Sinfonie G-Dur op. 88

13. Juni 2002, Gewandhaus, Großer Saal

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