„Tonblumen und Schwärmerbriefe“ beim vierten „historischen Konzert“
Kaum jemand weiß heute noch, dass Robert Schumann von seinen Zeitgenossen nicht nur als Komponist, sondern vor allem auch als Musikjournalist sehr geschätzt wurde. In der von ihm selbst gegründeten „Neue[n] Zeitschrift für Musik“ setzte er sich publizistisch stark für die damalige musikalische Moderne und ihre Vertreter ein – und das in einer Weise, die auch heute noch inhaltlich wie sprachlich zu fesseln weiß. Grund genug für die Initiatoren der Reihe „Leipziger historische Konzerte“, mit Schumann einmal die Konkurrenz zu Wort kommen zu lassen, die Konkurrenz nämlich zur „Allgemeine[n] Musikalische[n] Zeitung“, jenem Presseorgan, das lange Zeit die Meinungsführerschaft in musikästhetischen Fragen inne hatte und eine eher konservative Musikauffassung vertrat.
Den musikalischen Rahmen bildete mit „Tonblumen“ ein Thema, das wunderbar in die warme Jahreszeit passt. Schon lange vor Schumanns Zeit war es üblich gewesen, Kompositionen als „musikalische Blumen“ zu bezeichnen, doch vor allem in der Romantik findet man (Klavier-)Stücke dieses oder eines ähnlichen Titels zuhauf. Eine reiche Fundgrube ist es deshalb, aus welcher der Pianist Dietmar Nawroth und das Moderatorenduo, bestehend aus Marcus Erb-Szymanski und Wolfgang Gersthofer, schöpfen konnten. Doch damit ließen sie es nicht genug sein: Was sonst noch an Interessantem und Kuriosem am Wegrand blühte, wurde kurzerhand noch mit in das musikalische Bouquet eingebunden. Auch wenn das Programm dadurch etwas (zu) lang geriet: Wann hat man schon einmal die Gelegenheit, eine Komposition von Goethe zu hören? Und so nahm das zahlreich erschienene Publikum auch das etwas sonderbare Angebot des Mendelssohn-Hausherrn, das Konzert notfalls in der Pause zu verlassen, zum großen Teil nicht an. Eine kluge Entscheidung, wie sich zeigen sollte.
Zur Einstimmung und gleichzeitig als Referenz und Vergleichsmöglichkeit zu den folgenden Werken unbekannter Komponisten spielte Nawroth das „Blumenstück“ op. 19 von Robert Schumann, dem literarischen wie musikalischen Bezugspunkt des Konzerts. Und tatsächlich: Die nachfolgenden Auszüge aus dem „Bouquet musical“ von Heinrich Dorn ließen bei aller Selbständigkeit durchaus Anklänge an Schumann deutlich werden. Zusammen mit Schumanns dichterischen Umschreibungen der so verschiedenen „Pflanzencharaktere“ von Hyazinthe, Narzisse und Veilchen ergaben sich aparte Stimmungsbilder von großer Originalität. Agierte Nawroth bei diesen ersten Werken noch etwas zurückhaltend, fand er in der Nocturne „La Solitude“ von Henri Bertini, der heute vor allem für seine Etüden bekannt ist, zu jener Souveränität, die ein gelassenes Auskosten von Details und ein Schwelgen in der vertonten „Einsamkeit“ erst ermöglichte. Man denkt bei diesem Stück unwillkürlich an die Nocturnes des irischen Komponisten John Field, scheinen sie doch einer vergleichbaren Geisteshaltung zu entspringen.
Einer Frau hätte Schumann die „Frühlings-Sonate“ G-Dur noch durchgehen lassen, dem tatsächlichen Komponisten, Franz Graf von Pocci, las er indes gehörig die Leviten: Die Anlage sei zwar vorhanden, das Handwerk fehle aber. Nach dieser Kritik, von Wolfgang Gersthofer in ebenso brüskem wie strengem Ton vorgetragen, war man erst recht auf das eigentliche Werk gespannt. Ob dem Eröffnungssatz der Sonate tatsächlich kompositionstechnische Mängel anzulasten sind, soll hier nicht entschieden werden. Ein gewisser Eindruck von gefälliger Unverbindlichkeit lässt sich allerdings schwerlich leugnen. Nawroth trug wesentlich dazu bei, dass doch eine Spur von Frühling greifbar wurde, und bewältigte auch den bravourösen Schluss überzeugend.
Beste Voraussetzungen für das abschließende Stück des ersten Teils, dessen Titel „Allegro di Bravura“ für sich spricht. Übrigens stammt das Konzertstück in diesem Fall nicht von einem feminin komponierenden Mann, sondern von Julie Baroni-Cavalcabo, einer der verschwindend wenigen komponierenden Frauen. Doch auch ihr Verhalten scheint Schumann nicht angemessen: Ein Bravourstück sei doch eher etwas für Männer; Frauen sollten lieber Rührstücke komponieren. Außerdem sei die Komposition schlicht nicht unüberwindlich genug, um den Titel zu rechtfertigen. Nun, die Anwesenden konnten sich zu Genüge davon überzeugen, dass Frau Baroni-Cavalcabo trotzdem alles andere als ein technisch einfaches Stück geschrieben hat. Dietmar Nawroth bemühte sich redlich und mit Erfolg, dem eingängigen, handwerklich respektablen Opus 8 der Komponistin einiges an Reiz abzugewinnen. Dennoch – wie in der Frühlings-Sonate zuvor lagen Passagen von geringerer musikalischer Substanz offen zu Tage.
Zur Pause wurde es dringend Zeit für das Öffnen von Fenstern und Türen. Während die musikalischen Blüten die drückende Atmosphäre recht gut ertragen hatten, wären echte Blumen inzwischen vermutlich verwelkt.
Der zweite, deutlich kürzere Teil des Konzerts wirkte, was die Stückauswahl betrifft, eher bunt zusammengewürfelt. Das störte aber kaum, da die Musik äußerst abwechslungsreich zusammengestellt war und somit beste Unterhaltung bot. Zwei Etüden machten den Anfang. Zunächst gab es die brillante, technisch anspruchsvolle Etüde op. 21,1 von Friedrich Wilhelm Grund, danach die Etüde „Der Sylphentanz“ op. 17,12 von Jacob Rosenhain (na bitte, wenigstens im Namen eine Blume). Während Nawroth in ersterem Stück zuweilen leicht ins Stolpern geriet, avancierte der Tanz anmutiger junger Mädchen (oder ätherischer Geister; der Plural lässt leider keinen Aufschluss zu, ob „der“ oder „die“ Sylphe gemeint ist) zu einem Höhepunkt des Konzerts. Leicht und mit großer Farbigkeit gestaltete Nawroth dieses Kleinod mit deutlichen Grieg-Anklängen, und spätestens hier hatte er seine anfängliche Anspannung endgültig abgelegt.
Nach einem eher durchschnittlichen Werk, das vor allem ins Programm aufgenommen worden zu sein scheint, weil es von einem Enkel des „Dichterfürsten“ Johann Wolfgang von Goethe komponiert wurde (Walther von Goethe: „Allegro“ op. 2), folgte die eigentliche Entdeckung des Tages: das „Impromptu“ h-Moll op. 12,1 des englischen, von Schumann sehr geschätzten Komponisten William Sterndale Bennett. Dieses ebenso erfindungsreiche wie klangsinnliche Werk steht vielen bekannteren Kompositionen jener Zeit kaum nach und ist nichts weniger als bloßes Handwerk.
Den Abschluss der musikalischen Matinee bildeten zwei überaus delikate Früchtchen, nämlich zwei Sätze aus den „Tutti Frutti“ op. 24 von Wilhelm Taubert, die vornehmlich Schubert-Assoziationen weckten. Der zweite der Sätze, ein noch in klassischer Tradition stehendes „Alla Turca“ wurde von Nawroth mit viel Sinn für das exotische Kolorit vorgetragen und gab auf diese Weise einen würdigen Abschluss für dieses in mancher Hinsicht außergewöhnliche vierte „historische Konzert“ ab. Vom Konzept her setzten die Veranstalter auf Altbewährtes, und das zu Recht: Die praktizierte Kombination von Musik und Kommentar schien dem Publikum sehr entgegenzukommen. Zudem lockerten die oft sehr amüsanten Rezensionen den Ablauf immer wieder in erfrischender Weise auf.
Wieder einmal fragte man sich am Ende, welche Laune der Geschichte die vorgestellten interessanten Werke ungnädig in Vergessenheit geraten ließ. Oder, um es (passend zum Thema des Konzerts) mit den Worten der lettischen Schriftstellerin Zenta Maurina zu sagen: „Jede Blume welkt einmal, sollen wir sie deshalb weniger bewundern?“
Leipziger historische Konzerte 4: „Tonblumen und Schwärmerbriefe“
Dietmar Nawroth, Klavier
Marcus Erb-Szymanski/Wolfgang Gersthofer, Moderation
Werke für Klavier solo von Schumann, Dorn, Bertini u. a.
Sonntag, 23.06.2002,Mendelssohn-Haus, Musiksalon
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