Das Große Concert zur Saisoneröffnung
Dem Andenken eines Helden: Beethoven-Zyklus IBeethoven im Gewandhaus – das ist alles andere als eine Seltenheit. Mit beinahe ermüdender Regelmäßigkeit stehen die neun sinfonischen Publikumsmagneten auf dem Programm und sorgen für ausverkaufte oder zumindest gut besuchte Konzerte. Anlässlich seines 75sten Geburtstags hat Blomstedt sich (und dem Publikum?) den Wunsch erfüllt, sämtliche Beethoven’schen Sinfonien in einer einzigen Saison aufzuführen, auf der Grundlage der neuen kritischen Beethoven-Ausgabe von Jonathan Del Mar. Was erwartet die Konzertbesucher? Alter Wein in neuen Schläuchen oder eine gänzlich neue Beethoven-Sicht? Der „Leipzig-Almanach“ wird das Projekt anhand der einzelnen Konzerte regelmäßig verfolgen und am Ende rückblickend bewerten, ob Herbert Blomstedt und das Gewandhausorchester die selbstgesteckten Ziele erreicht und den erhobenen Anspruch eingelöst haben.
Beethovens zweite Sinfonie hat es nie leicht gehabt, was die Gunst des Publikums angeht. In ihrer unglücklichen Mittelstellung zwischen dem originellen Erstlingswerk in C-Dur und der „heroischen“ Dritten genoss sie auch nie eine vergleichbare Wertschätzung wie die „großen“ Sinfonien. Leider war das Eröffnungskonzert zur Gewandhaussaison 2002/03, mit dem zugleich der Beethoven-Zyklus begann, nur bedingt dazu angetan, dieses Bild zu korrigieren. Was den zahlreichen Gästen an diesem Abend geboten wurde, war eine solide Aufführung, die zwar einige sehr überzeugende Passagen enthielt, aber leider auch deutliche Schwachstellen.
Schon die grandiose Einleitung des ersten Satzes wurde beinahe verschenkt. Ihr faszinierendes Schwanken zwischen stolzer Feierlichkeit und abrupt einbrechendem Ernst, zwischen Licht und Schatten, Dur und Moll wurde nicht plastisch genug herausgearbeitet. Schon die ersten Takte wirkten zu zaghaft, der erste Teil der Einleitung zerfiel in Fragmente.
Mit Beginn des eigentlichen Sonatensatzes wurde einiges besser, vor allem der Einsatz des zweiten Themas mit seinem triumphalen Gestus gelang hervorragend. Allerdings blieb auch hier das Grundproblem bestehen, dass die reich vorhandenen Kontraste zu verschwommen gerieten, so als wollte Blomstedt das Bild von der heiteren, unverbindlichen Sinfonie, das der Zweiten leider anhaftet, nicht zu sehr gefährden. Ein wenig mehr Biss hätte hier gut getan. Auf der Haben-Seite dieser Aufführung müssen unbedingt die Bläser, vor allem die Holzbläser, erwähnt werden. Besonders in dieser Sinfonie mit ihren vielen gehaltvollen Bläserpassagen begeisterten sie immer wieder mit zugleich schlanker wie klangsinnlicher Tongebung.
Der zweite Satz gelang den Musikern insgesamt weitaus besser als der vorige. Sein zärtlicher Ausdruck wurde von Blomstedt sehr liebevoll gestaltet. Auch die Verdüsterung nach Moll im Verlauf der Durchführung und die Rückkehr zur Stimmung des Anfangs kann man sich kaum überzeugender vorstellen. Die Streicher, welche vor allem im zweiten Teil des Abends ihren großen Auftritt hatten, glänzten mit großer Nuancierungskunst, so zum Beispiel Bratschen und Violoncelli im humorvoll-anmutigen Schlussgruppen-Thema. Auch in diesem Satz gebühren die Lorbeeren den Holzbläsern, angefangen bei dem herrlichen Duett zwischen Klarinette und Fagott zu Beginn, bis hin zu dem delikaten Flötensolo am Ende. Alles in allem wurde der Satz zu einer wunderbaren, lieblichen Miniatur, gemalt in leuchtendsten Farben.
Farbig könnte man auch das Scherzo nennen. Allerdings in anderer Hinsicht. In seinem kühnen Kontrastreichtum ist dieser dritte Satz ein Musterbeispiel, wie bunt Beethoven es mit Vorliebe in den Scherzi seiner Sinfonien trieb. Leider ging in diesem Konzert einiges an Wirkung verloren, da die starken dynamischen Kontraste zu schwach ausgereizt wurden (bei der Wiederholung gelang das allerdings besser). Dennoch gab es auch hier interessante Stellen, beispielsweise den gemeinsamen Einsatz von Oboe und Fagott oder die sehr dicht gespielten chromatischen Linien der Streicher im zweiten Teil des Scherzos. Der Übergang zum Trio verschwamm völlig, ein wenig mehr Ruhe wäre wohl besser gewesen. Beide Teile des Trios überzeugten auf ihre Weise, der erste als Ruhepol in perfektem Bläserklang, der zweite durch sehr präzises Zusammenspiel der Streicher. Wie auch schon im ersten Satz hätte man sich etwas mehr Mut zum Grellen, zum Bizarren gewünscht. Dieser Beethoven wirkte doch etwas zu harmlos.
Der Finalsatz fand teilweise zu jener zupackenden Energie, zu jenem organischen Fluss, den man in den bisherigen Sätzen, vor allem dem ersten, teilweise vermisst hatte. Wenn auch an einigen Stellen die Transparenz des Orchesterklangs hörbar abnahm, der Grundansatz stimmte hier. In seinem Buch über die Beethoven’schen Sinfonien hebt Karl Nef das Groteske und Bizarre dieses Satzes heraus und betont, die Zweite als „ein krasses Ungeheuer, einen angestochenen, unbändig sich windenden Lindwurm“ zu bezeichnen (wie tatsächlich geschehen), treffe die Eigenart dieser Musik“ Blomstedts Ansatz war nicht „wohltuend und beruhigend“ sondern kraftvoll und energiegeladen. Der Schluss klang grandios und wurde so zum finalen Glanzlicht einer sonst doch eher matten Aufführung.
Verwundert, vor allem aber erfreut musste man nach der Pause registrieren, dass die Aufführung der „Eroica“ diejenige der zweiten Sinfonie bei weitem übertraf, und das schon im ersten Satz. So entfalteten die groß angelegten Steigerungen durch perfekte dynamische Staffelung nahezu Sogwirkung, die großen Klangballungen mit dem abschließenden großen Ausbruch (Zusammenbruch?) in der Durchführung hat man kaum je schicksalsschwerer gehört. Zudem wurden die einzelnen Gedanken sauber abgesetzt, ohne dass ein Eindruck des Episodischen entstand. Die Konzentration aller Beteiligten war konstant auf höchstem Niveau, Zufälle gab es nicht. Auch der berühmte Horn-Scherz zum Reprisenbeginn gelang; durch betont zaghaftes Spiel wurde er zum großen Spaß inmitten ernsthaften Ringens.
Der zweite Satz ließ dann schlicht Raum und Zeit vergessen. Die rauchig-fahlen Streicher, der himmlische Gesang der Oboe – ein Ereignis besonderer Art. Ohne je den Zusammenhang zu vernachlässigen, nahm sich Blomstedt genügend Zeit für Details, schwelgte fast in Schmerz und Aufbegehren. Die Entscheidung für harte Paukenschlägel kam in diesem Satz besonders gut zur Geltung, ihre Schläge gingen teilweise durch Mark und Bein. Man hoffte, dieser Trauermarsch möge niemals enden. Vielleicht dachte Blomstedt an diesen Satz, als er zu Beginn des Konzertes darauf verwies, dass Beethovens Musik in Zeiten der Hochwasserkatastrophen, aber auch des Zusammenhaltens von Mensch zu Mensch, nahezu prophetisch wirke.
Im dritten Satz fiel besonders das Trio mit seinem einmaligen Horntrio auf. Die drei Solisten glänzten an dieser exponierten Stelle mit makellosem, warmem Klang. Die Ausführung war durchweg sehr präzise und bot ein Beispiel exzellenter Orchesterkultur. Vor allem die Streicher liefen zur Hochform auf und bewiesen, worauf sich der internationale Ruf des Gewandhausorchesters gründet.
Der Finalsatz, formal wohl der ungewöhnlichste der Sinfonie, bildete den würdigen Abschluss einer hervorragenden Aufführung. Überaus subtil begaben sich Blomstedt und sein Orchester auf die Suche nach dem zunächst vom Komponisten unterschlagenen Hauptthema, Variation für Variation durchquerend, bis es schließlich in seiner ganzen optimistischen Schönheit freigelegt war. Besonders beeindruckend wirkte die Passage vor dem finalen Schlusslauf, wenn über dem Orgelpunkt der tiefen Streicher eine Art Ruhe vor dem Sturm einkehrt. Hier gab es jene Dimensionen leisen Spiels zu hören, die im ersten Teil des Abends zuweilen fehlten. Dann brach endlich jener finale Tumult aus, der in einer Rezension der Allgemeinen Musikalischen Zeitung vom 18. Februar 1807 mit folgenden Worten beschrieben ist: „Dieser Schluss selbst vereinigt nochmals alles, was ein gut besetztes Orchester in Leben, Fülle und Energie geben kann; er ist ein wahrer Jubel aller Instrumente, der, wie den Zuhörer, so jedes nicht bleyschwere Mitglied des Orchesters ergreifen, begeistern, fortreissen muss.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Grosses Concert zur Saisoneröffnung
Ludwig van Beethoven:
Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 36
Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 55 („Eroica“)
Gewandhausorchester Leipzig, Herbert Blomstedt
30. August 2002, Gewandhaus, Großer Saal
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