Galizisches Kaleidoskop

Andrzej Stasiuk erzählt Geschichten aus seiner Heimat

Mythos Mitteleuropa. Geheimnisvoll und sagenumwoben. Fern und doch so nah. Fast klingt er wie Tolkiens Mittelerde. Nach dem Ende der sozialistischen Staaten in Osteuropa und mit dem bevorstehenden Beitritt von Polen, Tschechien und Ungarn in die Europäische Union tritt auch das untergegangene Mitteleuropa langsam aus dem Nebel des Vergessens wieder hervor. Mitteleuropa, dieses Scharnier zwischen Ost- und Westeuropa, hat gute Zeiten gesehen und viele schlechte. Die schlechten haben dazu beigetragen, daß vieles unwiederbringlich verloren ist. Was dabei untergegangen ist, wissen wir seit der Lektüre von Bruno Schulz Zimtläden. Was aber noch zu verschwinden droht, das breitet Andrzej Stasiuk vor dem Leser mit seinen galizischen Geschichten aus.

Die Recherche war einfach. Für sein neues Buch hat er sich vor seiner Haustür umgesehen. Südostpolen nach der Wende. Bereits in Die Welt hinter Dukla (Suhrkamp, 2000) hat er den Leser mit diesem Landstrich vertraut gemacht. Fast ist es so, als ob man heimisches Terrain betritt. In seinen Galizischen Geschichten nimmt sich Stasiuk viel Zeit, die Leute zu beobachten, die in diesem verlassenen Winkel wohnen. Die Methode, der er sich dabei bedient, ist aus der Ethnologie bekannt: die der teilnehmenden Beobachtung. Stasiuk erzählt von Menschen, wie Wladek, der sich vom Waldarbeiter zum erfolgreichen Kioskbetreiber mausert, von Lewandowski, der vor einem Bild seiner Frau von Warschau träumt, vom Mörder Kosciejny, dessen Geist durch das Dorf wandert. Ob Mensch oder Geist, sie haben eines gemeinsam: Sie sind nicht aus ihrer Gegend fortgekommen.

Stasiuk zeigt wieder sein Gespür für die Geschichten, die Menschen. Dabei fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, wie der Autor selber in einer gottverlassenen Kneipe sitzt und einfach den Leuten zuschaut, wie sie versuchen, der Zeit ein Schnippchen zu schlagen. Wie sie die Langeweile austricksen wollen, die sich wie eine große Glocke über diesen Flecken Erde gelegt hat. Die einzigen Fixpunkte sind in dieser Einöde, die aus der Erde gefallen zu sein scheint, die Tage, wenn der Lohn gezahlt wird. Nach diesen Tagen ordnet sich das soziale Leben. Dann kommt Leben in die Kneipe. Und so kann sich auch die verblichene Kellnerin ihre Zeit geruhsam einteilen. Wenn die LPG gezahlt hat, dann heißt es warten, bis die Waldarbeiter ihr Geld bekommen haben.

Mit seinen Galizischen Geschichten setzt Stasiuk all denen ein Denkmal, für die in dieser schnelllebigen Zeit sonst kein Platz ist. Allein die Übersetzung gerät an manchen Stellen etwas holprig. Oder was ist eine „Stille, wie wenn man durch nasses Gras läuft“?

Andrzej Stasiuk: Galizische Geschichten
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2002
132 Seiten, 19,90 €

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