Lass singen, Gesell, lass rauschen

Christian Gerhaher, Bariton singt Schuberts „Schöne Müllerin“ im Gewandhaus

Schuberts Liederzyklus „Die schöne Müllerin“ hat immer wieder zu unterschiedlichsten Interpretationen angeregt. Manche Sänger betonen eher die schlichten, volkstümlichen Züge (z. B. der unvergessliche Fritz Wunderlich), während andere mit intellektueller Schärfe noch den feinsten Nuancen nachspüren (so u. a. Christoph Prégardien), manchmal auf Kosten der emotionalen Glaubwürdigkeit, dafür aber auch nicht so stark der Gefahr des Sentimentalen und Kitschigen ausgesetzt wie jene erste Gruppe. Wofür man sich auch entscheidet – ein klares Konzept muss erkennbar werden, ein Konzept, das die zwanzig Einzellieder zum Zyklus formt.

Christoph Gerhahers Darbietung ließ ein derartiges Konzept vermissen. Teilweise sehr natürlich und einfühlsam gestaltend, andererseits aber oft mit opernhaftem Pathos hantierend, gelang es ihm nicht, ein plastisches Bild jenes Müllersburschen zu erzeugen, der froh zur Wanderung aufbricht und, nachdem er Liebesleid erfahren musste, im Fluss sein kühles Grab findet. Einzelne Lieder, besonders die stillen, melancholischen, sang Gerhaher mit wunderbar warmem Ton und subtil durchgeformt, andere wiederum blieben entweder blass oder wurden im Gegenteil in ihrem dramatischen Gehalt zu sehr übertrieben. Das eklatanteste Beispiel hierfür war das Lied „Der Jäger“, welches in einem irrwitzigen Tempo heruntergerattert wurde. Die Strafe dafür ließ nicht auf sich warten: Gerhaher verrutschte im Text und mischte die Verse der ersten Strophe munter durcheinander, wobei auch schon einmal einer doppelt vorkommen konnte. Mit der vor Beginn des Konzerts angedrohten „leichten Erkältung“ hatte das nichts zu tun. Mit professionellem Liedgesang auch nichts.

Ein weiteres fundamentales Problem war die teilweise zu flüchtige Aussprache der Konsonanten („Dann sä(n)g er hell durch ihre Fensterscheiben“) und vor allem die oftmals verzerrte Färbung der Vokale („Mein Schatz hat’s Grün so garn“ , „Ihr blauen Morgenstarne“ ). Negativ ist auch zu verbuchen, dass Gerhaher viele in den Liedern angelegte Möglichkeiten ungenutzt ließ, so z. B. das Umschwingen der Stimmung in „Eifersucht und Stolz“ (der Titel sagt es ja eigentlich schon!), oder die weihevolle Stunde des Feierabends mit dem bezaubernden Nachtgruß der Müllerstochter im fünften Lied des Zyklus. Allerdings mag Gerhaher aufgrund seiner Erkältung auch einige Gestaltungsextreme bewusst gemieden haben.

Lobend erwähnt werden muss unbedingt der Pianist Gerold Huber. Was dem Bariton an Nuancierungskunst (heute) fehlte, besaß dieser in hohem Maß. Jedem Lied gab er ein eigenes Gepräge, wobei er sich durchaus Freiheiten erlaubte. Diese blieben aber immer im Rahmen und machten vielleicht erst den Unterschied zu einer bloß anständigen Begleitung aus.

Im letzten Lied des Zyklus fanden beide Interpreten auf hohem Niveau zusammen und vermittelten einen Eindruck davon, was das Duo unter anderen Umständen zu leisten imstande sein könnte.
„Und der Himmel da droben, wie ist er so weit…“
Christian Gerhaher, Bariton
Gerold Huber, Klavier

Franz Schubert: „Die schöne Müllerin“
Liederzyklus nach Gedichten von Wilhelm Müller (D 795)

14. September 2002, Gewandhaus, Mendelssohn-Saal

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