Große Erwartungen-übertroffen!

Das zweite Konzert des Gewandhausorchesters unter Riccardo Chailly

Für sein zweites Gastspiel am Augustusplatz hatte Riccardo Chailly sich besondere Bravourstücke ausgesucht, die ihre Wirkung beim Publikum dann auch nicht verfehlten, obwohl sie zum Teil noch nie zuvor im Gewandhaus zu hören gewesen waren. Rossini kommt eben immer an, zumal in einer glänzenden und effektvollen Orchestrierung Ottorino Respighis. Die Ballettsuite „Der Zauberladen“ hat alles, was das Herz begehrt: Charakteristische Tanzsätze, individuell gefüllt mit originellen Einfällen, das ganze überaus abwechslungsreich zusammengestellt – was will man mehr! Doch das ebenso spaßige wie harmlose Rossini-Potpourri ist kein Selbstläufer, sondern angewiesen auf ein Orchester, das präzise und beweglich agiert und zudem jenen Esprit besitzt, der den orchestral aufpolierten Miniaturen erst wirkliches Leben einhaucht. Ob es allein am zukünftigen Gewandhauskapellmeister Chailly lag, oder ob auch das große öffentliche Interesse an diesem Konzert eine Rolle gespielt hat, festzuhalten bleibt: Sie war an diesem Abend da, jene Spielfreude, und mit ihr ein genüssliches Schwelgen in Klängen, ein Auskosten von Effekten und eine atemberaubende rhythmische Präzision, wie sie längst nicht in jedem Konzert des Gewandhausorchesters zu erleben ist, zumindest nicht auf diesem Niveau. Wunderbare Soli und ein strahlender Tuttiklang, atemberaubende Crescendi, lupenreine Intonation – alles das ist mehr, als man erwarten konnte, und zeigt, dass das Gewandhausorchester durchaus internationales Spitzenformat erreichen kann. Es bleibt abzuwarten, ob Chailly diese Höhenflüge in den ab 2005 beginnenden Alltag retten kann. Zu wünschen wäre es ihm und uns.

Respighis „Pini di Roma“ reißen das Publikum zu wahren Begeisterungsstürmen hin, was man als deutliches Zeichen dafür werten kann, dass ein Verlassen ausgetretener Repertoire-Pfade sich öfter einmal lohnen würde. Diese sinfonische Dichtung hat ebenfalls alles, was ein Publikumsrenner braucht: ein Programm, an dem man sich orientieren kann, eingängige Melodien, treibende Rhythmen, vor allem aber eine große orchestrale Farbenpracht, verbunden mit diversen Extravaganzen, wie z. B. entfernt aufgestellten oder überhaupt ungewöhnlichen Instrumenten; nicht zu vergessen natürlich jene umstrittene Passage, in der eine Aufnahme mit echtem Nachtigallengesang eingespielt wird. Von der fröhlichen Verspieltheit des ersten Teils über die düstere Katakomben-Stimmung des zweiten und das esoterische Naturbild des dritten bis hin zur bombastischen Schlussapotheose entfalteten Chailly und das Gewandhausorchester einen schillernden Bilderbogen. Bemerkenswert ist vor allem die große Liebe zum Detail, die sich sowohl im Dirigat Chaillys als auch im Spiel der einzelnen Gruppen und der Solisten zeigte, und die erst gegen Ende einem massiven Gesamtklang zuliebe teilweise aufgeopfert wurde.

Nach der Pause gab es Strawinskys „Sacre“, eine Komposition, die zwar heutzutage keinen Eklat mehr auslöst, die aber dennoch alles andere als leicht zugänglich ist. Ihre rhythmischen Eruptionen (im Disney-Klassiker „Fantasia“ bekanntlich tatsächlich mit Vulkanausbrüchen assoziiert) und ihr Spiel mit teilweise penetranten Ostinati haben nach wie vor eine abschreckende Wirkung auf große Teile des Konzertpublikums. Umso erfreulicher ist der Erfolg, den die Aufführung unter Riccardo Chailly bei den Leipzigern hatte. Wenn man auch nicht den Applaus für die Komposition von demjenigen für das Orchester und seinen Dirigenten trennen kann – ein Erfolg war die Aufführung zweiffellos. Und das, obwohl sich hier nach dem fulminanten ersten Konzertteil leichte Schwächen zeigten: die rhythmische Präzision ließ eigentlich an allen Pulten teilweise zu wünschen übrig, und der Gesamtklang geriet immer wieder einmal aus der Kontrolle, wurde undurchsichtig und verschwommen. Überhaupt fehlten manchmal klare Konturen. Hier hätte Chailly noch deutlicher machen müssen, was seine Absichten sind, hätte er den roten Faden des komplexen Werks noch fester im Griff behalten müssen. Trotz dieser Mängel: Das Konzert als Ganzes wurde zur Sternstunde für das Orchester und zeigte deutlich, dass das Leipziger Publikum sich auf Riccardo Chailly freut, und dass überdies die Chemie zwischen dem Gewandhausorchester und seinem zukünftigen Chefdirigenten stimmt.

Rossini/Respighi/Sargent: Konzertsuite aus „La Boutique Fantasque“
Ottorino Respighi: Pini di Roma (Pinien von Rom)
Igor Strawinsky: Le Sacre du Printemps

Gewandhausorchester
Dirigent: Riccardo Chailly

19. September 2002, Gewandhaus, Großer Saal

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