„Preisend die Göttlichkeit schweigt das Gedicht!“

Der „Zauber der Musik“ mit zwei eindrucksvollen Werken von Christfried Schmidt und Ferruccio Busoni

„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“. Dieser berühmte Ausspruch Jean Pauls trifft nur bedingt zu; denn je nach persönlicher Situation, abhängig vom individuell Erlebten, kann die Erinnerung auch zur Hölle werden, zum Ort traumatischer Bedrohung. In seinem Werk „Memento“ für großes Orchester thematisiert Christfried Schmidt, verbunden mit dem Andenken an seine Mutter, die großen Leiden des vergangenen Jahrhunderts. Kompromisslos konfrontiert er den Hörer mit der Gewalt menschlichen Schmerzes. Nur hin und wieder blitzt Ironie auf, fast wie ein Schutzreflex. Das knapp halbstündige, dreiteilige Werk verstört durch heftig aufeinander prallende Kontraste im Bereich der Dynamik und der Satztechnik, aber auch der Instrumentation. Längere Phasen in eher flächigem Satz wechseln mit filigraner Linearität, massive Klangballungen mit eher durchsichtigen Solopassagen, Ausbrüche tiefsten Leids mit etwas zurückgenommenen Momenten. Doch nicht nur im zeitlichen Nacheinander, auch simultan werden Gräben aufgerissen, so zum Beispiel, wenn gegen Ende des Werks extrem hohe Töne der Violine der Tiefe der Kontrabässe entgegen gestellt werden. So vielfältig die Mittel sind, derer Schmidt sich bedient, so originell weiß er sie einzusetzen, sie in immer neue Kontexte einzubinden, wodurch sich ständig neue Ausdrucksdimensionen erschließen.

Das MDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Fabio Luisi hebt die Auftragskomposition mit großem persönlichen Einsatz aller Beteiligter aus der Taufe und bereitet damit nicht nur dem Komponisten einen großen Gefallen. Luisi mit seinem ebenso konzentrierten wie emotionalen Zugriff, die durchweg überzeugenden Soli, die exzellente Schlagzeuggruppe – sie alle bieten dem Werk beste Voraussetzungen für eine unmittelbare, durchschlagende Wirkung im Sinne Christfried Schmidts.

Viel wichtiger noch als diese rein musikalischen Elemente scheint mir das große persönliche Engagement des Komponisten, seine Ehrlichkeit und humanistische Grundhaltung, welche der Musik Bekenntnischarakter verleihen und den Eindruck erwecken, sie sei einem inneren Zwang abgerungen. Vergleichbar ist Christfried Schmidt hierin vielleicht dem schwedischen Sinfoniker Allan Pettersson, für den seine Musik wohl Krankheit und Therapie zugleich war. Ebenso wie Petterssons Werke verlangt „Memento“ vom Hörer einiges an Aufmerksamkeit und Geduld. An einen Ausspruch des Künstlers Edvard Munch angelehnt, sagt Schmidt, es gehe ihm mit seiner Musik darum, den Menschen etwas zu geben, was sie herausfordere und errege. Beim Leipziger „Zauber der Musik“-Publikum hat er dieses Ziel leider nicht erreicht. Es ist dem Werk zu wünschen, dass es nicht bei dieser einen Aufführung bleibt; denn Christfried Schmidts Musik hat etwas zu sagen, das das Zuhören lohnt.

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Ein siebzigminütiges Klavierkonzert mit Männerchor hört man sicherlich nicht alle Tage. Umso gespannter konnte man deshalb auf Ferruccio Busonis monumentales Concerto op. 39 sein, ein Werk, das Altes mit Neuem zu verbinden sucht, das ebenso Konzert wie Sinfonie, Sinfonie wie Kantate ist. Fünf Sätze enthält das gigantische Opus, deren erster, dritter und fünfter nach Busonis Worten die „Gebäude“ sind, während der zweite und vierte Satz jeweils als naturmystisches Zwischenspiel verstanden werden sollen. In seinem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“, den er wenige Jahre nach dem Concerto schrieb, bezeichnet Busoni die Musik als einen „Teil des schwingenden Weltalls“. Und tatsächlich ist sie in seiner Musik greifbar, eine fast grenzenlose, der Unendlichkeit des Kosmos zustrebende Weite. Das Concerto bedeutet für die Ausführenden eine immense Herausforderung, gilt es doch, sich der auskomponierten Ewigkeit hinzugeben, ohne das Werk zerfallen zu lassen, und ohne den Hörer in die so ganz andere Unendlichkeit eines apathischen Dahindämmerns fallen zu lassen; denn siebzig Minuten können lang werden.

Carlo Grante beherrscht den ehrfurchtgebietenden Klavierpart vollkommen. Eindrucksvoll meistert er die in reicher Zahl vorhandenen technischen Hürden und vernachlässigt darüber doch nur selten den musikalischen Ausdruck. Oftmals muss er vergeblich gegen die akustische Übermacht des Orchesters ankämpfen, so dass man allenfalls mit den Augen verfolgen kann, womit er sich teilweise herumzuschlagen hat. Dieses ist aber keineswegs die Schuld von Fabio Luisi. Busoni behandelt das Soloinstrument einfach recht häufig als Orchesterinstrument unter anderen und bietet ihm nur selten Gelegenheit, sich effektheischend hervorzutun. Neben dem Klavier werden auch den anderen Instrumenten wunderschöne Soli übertragen, was mit dazu beiträgt, Einseitigkeit zu vermeiden. Fabio Luisi bemüht sich sichtlich, den roten Faden der Komposition nicht zu verlieren, dieses gelingt ihm aber nur teilweise. Vermutlich gibt es diesen Faden auf weite Strecken auch gar nicht. Spätestens im vierten Satz häufen sich im Publikum die mehr oder weniger unverhohlenen Blicke auf die Uhr oder diejenigen zur Begleiterin bzw. dem Begleiter. Was für ein Segen, dass Busoni im Finalsatz noch einen (seit Beethoven mehrfach benutzten) Spezialeffekt aus dem Ärmel schüttelt: den Einsatz eines Chores.

Eines Männerchores, um genau zu sein. Dieser singt zwei Strophen aus einer „Alladin-Dichtung“ von Adam Oehlenschläger aus dem Jahr 1805. In gemächlichem Tempo und gemäßigter Lautstärke werden die „Pfeiler der Welt“ beschworen, welche seit Jahrtausenden „in Glanz und Festigkeit“ stehen, als Darstellung der „Unverwüstlichkeit“. Die Herren des MDR Rundfunkchores übermitteln hervorragend den weihevollen Tonfall der Dichtung, überzeugen durch differenzierte Tongebung und edlen Gesamtklang. Allen Schönheiten des extravaganten Werks zum Trotz atmet wohl doch der eine oder andere Zuhörer auf, als es schließlich heißt: „Preisend die Göttlichkeit schweigt das Gedicht!“

MDR „Zauber der Musik“

Christfried Schmidt (geb. 1932): „Memento“ für Orchester (Uraufführung)
Franz Liszt: „Tasso. Lamento e Trionfo“ (Sinfonische Dichtung Nr. 2)
Ferruccio Busoni: Concerto op. 39 für Klavier, Männerchor und Orchester

MDR Sinfonieorchester
MDR Rundfunkchor (Herren)
Carlo Grante, Klavier
Dirigent: Fabio Luisi

Sonntag, 27. Oktober 2002, Gewandhaus, Großer Saal

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