Volle Gönnung

Tocotronic live und die Folgen

Wer ist das eigentlich, der sich Tocotronic-Lieder wie „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ oder „Die neue Selt-samkeit“ in Endlosschleifen anzuhören kann und sie zu seinen Hymnen macht? Ein kurzer Blick ins Forum der Fan-Website www.tocotronix.de zeigt es: Der typische Fan ist realistisch („jeder penner kennt inzwischen tocotronic. also echt. tut doch nicht so.“), fürsorglich („Ich habe von nem Kumpel erfahren, das Dirk [Tocotronic-Sänger] angeblich kokst. […] Das wäre doch schon ein bisschen blöde.“) und unverstanden von seinen Mitmenschen („Ich kenne nur wenige aus meinem Bekanntenkreis, die Tocotronic auch gerne hören. Meiner Freundin sind sie zu depressiv, meiner Mutter zu destruktiv und einigen meiner Freunde sind ihre Texte zu unzugänglich.“).

Nun ja. Das soll schon alles sein? Man wird sehen.

20:30 Uhr: vor dem Conne Island
Glück und Verzweiflung, getrennt nur von einem Schnipsel Papier, der Eintrittskarte. Ausverkauft ist das Konzert schon seit zwei Wochen; und doch, zahlreiche mit Hoffnung und billigem Rotwein gewappnete Optimisten bemühen sich vor dem Eingang um Karten. Nahezu rührend: Die offensichtliche Lüge „Ey, das Konzert fällt aus, aber ich kauf deine Karte für meine Sammlung, okay?“

Drinnen steigt die Stimmung mit fortschreitendem Bierkonsum; es wird später, die Halle füllt sich, und durch die verrauchte Luft dringen neben der Musik vom Band erste Fan-Gesänge. Doch schon regt sich leichter Unmut ob der langen Wartezeit unter den Fans, und man fragt sich, ob nicht etwas dran sein könnte an den Koks-Gerüchten…
21:45 Uhr: Endlich tut sich etwas auf der Bühne
Kurz werden die Mikrofone überprüft, die große Leinwand im Hintergrund gerichtet. Turner, Tocotronics Support, betritt die Bühne; er bietet eine, vorsichtig formuliert, eigenwillige Show: Während der Musiker auf der Bühne ausschließlich singt und am Mischpult herumschaltet, sieht man ihn auf der Videoleinwand im Hintergrund mit Gitarre und Keyboard hantieren (offensichtlich zuvor aufgenommen). Der an sich hörenswerte Elektropop begeistert das Publikum jedoch nicht wirklich, was der Darbietende mit sarkastischen Kommentaren („Fantastisch, wie ihr mitgeht“) quittiert. Nach einer halben Stunde beendet er seinen Auftritt.

Wieder verstreichen 30 Minuten mit Warten und Bedenken – was, wenn der Abend so weiterginge, wie es Turner und das endlose, dichtgedrängte Rumstehen versprechen?
22:45 Uhr: Das Blatt wendet sich
Wieder Techniker auf der Bühne, die Tonbandmusik erstirbt, Scheinwerfer gehen an und die Nebelmaschine tut das ihrige, Tocotronics Auftritt anzukündigen. Und da kommen sie dann auch, die Hamburger Jungs, und die Halle tobt. Eine kurze Begrüßung, dann das erste Lied; vom neuen Album ist es, das oft kritisiert wurde als zu geschliffen: Die alte Trotzigkeit sei dahin, das typisch „tocotronische“ Gemisch aus melancholischem Pop und mitreißendem Rock nicht wiederzufinden. Doch nichts dergleichen lässt sich beim Auftritt hier und heute feststellen: Laut und gitarrenlastig und schön ist die Musik, und keiner kann sich dem entziehen. Über den singenden und springenden Massen werden die ersten Stagediver weitergetragen, und als die Klassiker vom 95er-Album „Digital ist besser“ angestimmt werden, weiß man, dass der Abend eingehen wird in die persönlichen Erinnerungen an unvergleichliche Konzerte. Kein Lied, das einen unbeteiligt zuhören lässt, und Tocotronic – sichtlich gutgelaunt – fordern ihren Fans (neben realistisch, fürsorglich und unverstanden also auch begeisterungsfähig, sing- und bewegungs- freudig sowie musikgeschmacklich gefestigt) mit zwei Zugaben – zwei Liedern die letzten Konditionsreserven ab.
00:15 Uhr: Zeit zum Ausruhen
Tocotronic sind weg.
Donnerstag, 31.10.:
Die 1. Nebenwirkung

Ein Blick in meinen Rucksack 10 Minuten nach Ende des Konzertes. Schock: Portemonnaie und Handy sind weg! Ich möchte mich der Frage eines Fans im Forum anschließen: „Warum ist die Welt so krass mit uns?“, doch Glück im Unglück: Zumindest das Portemonnaie samt Inhalt wurde an der Bar abgegeben.
Freitag, 01.11., 08:00 Uhr morgens: Beim Ohrenarzt (die 2. Nebenwirkung)
Diagnose Hörsturz. Gelohnt hat sich’s trotzdem. Und wieder einmal finden Tocotronic die richtigen Worte: „Das Unglück muss zurückgeschlagen werden.“



Mittwoch, 30.10.: Das Konzert

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