Hüt dich vor Erlenhöh!

Die Entdeckung der diesjährigen Saison: „Erlkönigs Tochter“ von Gade bei den Mendelssohn-Festtagen 2002

Ein großes Ereignis war das zweite Konzert des Gewandhaus-Kammerchors innerhalb der diesjährigen Mendelssohn-Festtage, und das vor allem durch die Aufführung der Ballade „Erlkönigs Tochter“ von Niels W. Gade. Zudem bot das Konzert ein Musterbeispiel für überzeugende Programmgestaltung; denn obwohl nicht ein einziges Werk Mendelssohns mit von der Partie war, wehte dessen Geist durch viele der aufgeführten Kompositionen. Bei der ausgewählten Musik handelte es sich übrigens ausschließlich um Raritäten bzw. Kuriosa, jedoch durchweg um solche, deren Entdeckung sich unbedingt lohnte. Und was die bereits erwähnte Ballade „Erlkönigs Tochter“ angeht, welche im zweiten Teil des Konzerts gegeben wurde, so kann man ohne weiteres von einer Sensation sprechen – doch alles der Reihe nach.

Die Ouvertüre zu“Hakon Jarl“ des dänischen Komponisten Johann Peter Emil Hartmann erwies sich als eher moderater Einstieg in das Konzert. In sinnfälliger Weise konnte man den Konflikt zwischen Heiden und Christen miterleben, welcher durch zwei stark kontrastierende Themen versinnbildlicht wurde, die für sich genommen aber etwas blass wirkten. Der fast durchgängig düstere Grundton erzeugte jedoch eine spannungsgeladene Atmosphäre, und der große instrumentale Reichtum (ungewöhnlich viele Blechbläser, Harfe und Gong) sorgte für genügend Abwechslung im Geschehen. Dass am Ende das Christentum triumphierte, wird niemanden überraschen.

Als kleine Kostbarkeiten stellten sich Hartmanns drei Volksliedsätze op. 86 heraus, die der Gewandhauskammerchor in dänischer Sprache und a cappella zu Gehör brachte. Schlicht, anrührend, volkstümlich: So lassen sich die drei kurzen Sätze charakterisieren. Die Sängerinnen und Sänger boten alles auf, was ihnen an Klangzauber zu Gebote stand, und gestalteten diese im besten Sinne „kleine“ Musik als leuchtende, duftige Miniaturen.

Johannes Brahms‘ Idee, seine vier Gesänge für Frauenchor op. 17 von zwei Hörnern und Harfe begleiten zu lassen, erschien nicht nur Clara Schumann erstaunlich; auch uns ist diese Besetzung eher fremd. In der Praxis zeigt sich aber, dass diese Kombination sehr reizvoll sein kann, besonders dann, wenn man eine so hervorragende Harfenistin wie Elfi Bedleem und so fähige Hornisten wie Leonhard Krug und Christian Kretschmar mit der Ausführung betraut. Immer wieder bekamen Harfe und Hörner an diesem Abend solistische Aufgaben, und stets wurden sie ihnen gerecht.

So auch in Adolf Jensens „Brautlied“ op. 10, Nr. 2, das übrigens zum ersten Mal in diesem Konzert der Sopranistin Turi Oli Grimstad Gelegenheit bot, ihr Können unter Beweis zu stellen, bevor sie dann als Erlkönigs Tochter ihren ganz großen Auftritt hatte. Auf den zweiten Teil des Programms stimmte Niels W. Gades Ouvertüre „Nachklänge aus Ossian“ op. 1 ein. Hierbei handelt es sich um ein überzeugendes und kurzweiliges Werk mit deutlich erkennbaren Rahmenteilen, prägnanter Melodik und bisweilen dissonanten Einwürfen. Nun aber zum eigentlichen Höhepunkt des Abends: „Erlkönigs Tochter“.

Der Inhalt der alten Sage um Erlkönigs Tochter ist schnell erzählt: Herr Oluf reitet am Abend vor seiner Hochzeit (entgegen allen Warnungen seiner Mutter) noch einmal durch den Erlengrund. Dort widersteht er zwar den Verführungskünsten von Erlkönigs Tochter, wird aber von dieser aus Rache mit einem tödlichen Fluch belegt. In Gegenwart der Hochzeitsgesellschaft haucht er schließlich sein Leben aus. Geht es im „Hakon Jarl“ um den Konflikt zwischen Christentum und Heidentum, stehen sich hier das moralische Prinzip der Ehe und das der ungezügelten Sinnlichkeit gegenüber, zwischen denen Herr Oluf sich kaum entscheiden kann. Diese Thematik lechzt geradezu nach einer Vertonung, und zumindest eine der existierenden hat es zu einer gewissen Beliebtheit gebracht, nämlich die Ballade für Sologesang und Klavier „Herr Oluf“ von Carl Loewe. Die Ballade für Soli, Chor und Orchester von Niels W. Gade ist hierzulande hingegen völlig unbekannt, was man nach diesem Konzert nur als Jammer bezeichnen kann.

Während die Mutter das moralische Prinzip vertritt und ihren Sohn verzweifelt vom Erlengrund fernhalten will, versucht Erlkönigs Tochter alles, um Herrn Oluf vom Pfad der Tugend abzubringen. Rebecca Martin überzeugte als verzweifelte Mutter, deren eindringliche Warnungen aber erfolglos bleiben. Turi Oli Grimstad verband in ihrer Darstellung von Erlkönigs Tochter süßliche Verführungskunst mit unerbittlicher Grausamkeit und stellte damit die Ambivalenz der Figur treffend heraus. Palle Knudsen schließlich verkörperte einen schwankenden Herrn Oluf, der, um mit Freud zu sprechen, zwischen „Es“und „Über-Ich“ hin- und hergerissen wird. Besondere Spannung erhielt die Aufführung durch die Interaktion zwischen den drei Solisten, die nicht nur mit dem Publikum, sondern auch untereinander kommunizierten. Der Chor lieferte vor allem ergänzende Kommentare und übernahm zugleich die Rolle eines Erzählers. Einen besonderen Reiz der knapp dreiviertelstündigen Komposition macht aber der Orchesterpart aus: Da schlagen in den Flöten die Nachtigallen, da bricht mit sanften Bläserfarben der Abend herein, während der Tanz der Elfen vom Triangel begleitet wird. Und an dieser Stelle muss nun auch endlich dem Leipziger Kammerorchester ein großes Lob ausgesprochen werden, das sich prinzipiell auf den ganzen Abend beziehen lässt. Auch wenn hier und da kleinere technische Unebenheiten auftraten, so ist das nichts im Vergleich zu dem rückhaltlosen Engagement für die Musik, was mit Lebendigkeit, emotionaler Eindringlichkeit und überschäumender Energie belohnt wurde. Morten Schuldt-Jensen dirigierte zurückhaltend aber stets aufmerksam, immer am Puls der Musik. Durch den großen persönlichen Einsatz aller Beteiligter wurde diese Aufführung zur wichtigsten Entdeckung der diesjährigen Mendelssohn-Festtage, wenn nicht sogar der gesamten Konzertsaison.
Ein großes Ereignis, in der Tat!

Chorkonzert im Rahmen der Mendelssohn-Festtage 2002

Niels Wilhelm Gade:
Erlkönigs Tochter (Ballade nach dänischen Volkssagen
für Soli, Chor und Orchester op. 30)
Ouvertüre „Nachklänge aus Ossian“ op. 1

Johann Peter Emil Hartmann:
Ouvertüre zur Tragödie „Hakon Jarl“ op. 30
Drei dänische Volksliedsätze für Chor a cappella op. 86

Johannes Brahms:
Lied von Shakespeare „Komm herbei, Tod“ und Gesang aus Fingal
aus den Gesängen op. 17

Adolf Jensen:
Brautlied op. 10, Nr. 2

Gewandhauskammerchor, Leipziger Kammerorchester, Dirigent: Morten Schuldt-Jensen
Turi Oli Grimstad, Sopran; Rebecca Martin, Alt; Palle Knudsen, Bariton
Elfi Bedleem, Harfe; Leonhard Krug, Horn; Christian Kretschmar, Horn

2. November 2002, Gewandhaus, Großer Saal

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