Der Kanon erspart das Lesen nicht

Das Buch der 1000 Bücher versammelt nicht nur Belletristik, sondern auch Sachbücher und Reiseberichte

Die Mechanismen des Feuilletons sind relativ einfach: Am besten lässt sich immer noch eine aufgeregte Debatte mit der Frage nach einem Bücher-Kanon entfesseln. So geschehen als Marcel Reich-Ranicki vor zwei Jahren im Spiegel seine persönliche Favoritenliste veröffentlichte. Vor wenigen Wochen war es derselbe Autor, der ein Bücherpaket mit zehn Romanen vorstellte, die seiner Meinung nach, den deutschen Roman meisterlich vertreten. Und wieder schlugen die Wellen hoch. Zu einseitig hieß es da, warum nicht dieser und jener Autor vertreten sei, wurde sich mokiert. Am Ende freute sich nur der Verlag bei dem die Edition erscheint über die kostenlose Werbung. Das Buch der 1000 Bücher hingegen ist nicht Kanon, sondern viel mehr ein Nachschlagewerk, Erinnerungshilfe und Ausgangspunkt für individuelle literarische Entdeckungsreisen. Für die Aufnahme eines Buches war nicht Bedeutung des Autors entscheidend, sondern die Geschichte und Wirkung des einzelnen Werkes.

150 Autoren haben recherchiert, dokumentiert und aufgeschrieben, welche Bücher wann und warum die Welt bewegt haben. 1247 großformatige Buchseiten haben sie am Ende benötigt, um den geneigten Augen des Lesers ihre Arbeit vorlegen zu können. Der Aufbau der Einträge ist sehr übersichtlich. Zu jedem der 1000 ausgewählten Werke aus rund zwei Jahrtausenden gibt es neben den genauen bibliographischen und historischen Daten jeweils Informationen über die Einordnung in die Kultur- und Geistesgeschichte. Ergänzt werden die Texte zu den Büchern durch Textauszüge zu den besprochenen Werken, aber auch Zitate, in denen Freunde, Kritiker und Literaturhistoriker sich über das jeweilige Werk geäußert haben und darüber hinaus noch Begriffserklärungen.

Natürlich wirft ein Werk, das den Kanon der Literaturgeschichte neu definieren möchte, die Frage nach der Auswahl auf. Herausgeber Kaiser und der Verlag haben betont, dass sie „1000 wichtige, wegweisende und lesenswerte Bücher“ auswählen wollten. Berücksichtigt wurden nicht nur Romane, sondern auch bedeutende Novellen, eigenständige Lyriksammlungen und Kinderbuchklassiker, außerdem – und darin liegt der besondere Reiz dieses Buches – programmatische Schriften, exemplarische Sachbücher, Reiseberichte und bedeutende Monographien. Auch die großen anonymen Werke der Kulturgeschichte, also z. B. Bibel, Talmud und Koran, aber auch Edda, Nibelungenlied und das Gilgamesch-Epos werden analysiert. Nur die dramatische Literatur bleibt außen vor – was vielleicht darauf schließen lässt, dass mit einigem Abstand ein eigenes Werk zu diesem Thema folgen könnte.

„In den Naturwissenschaften ist jeweils der neueste Forschungsstand allein verbindlich“, schreibt Kaiser in seiner Einleitung, „Inhalt und Gehalt einer Dichtung sind jedoch unüberholbare Sprachformen.“ Ob sich aus der literarischen Gesamtheit eine absolute Auswahl von 1000 Büchern treffen lässt, nimmt Kaiser nicht in Anspruch: „Der ‚Kanon‘ ist eine empfehlende, hilfreich kommentierte Auswahl, die sehr wohl nützlich sein kann und dem Bereitwilligen, Aufgeschlossenen und Neugierigen helfen will. Jeder ehrgeizige Leser kann diesem ‚Kanon‘ seinen ‚eigenen Kanon‘, seine eigene Auswahl entgegensetzen.“

Joachim Kaiser (Hg.): Das Buch der 1000 Bücher. Autoren, Geschichte, Inhalt und Wirkung
Harenberg Verlag, 2002
1247 Seiten, 1268 Abbildungen, Leinen, 50 €

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