Alle Jahre wieder

Das Gewandhausorchester gibt mit den Thomanern das Weihnachtsoratorium in der Thomaskirche

Johann Sebastian Bachs „Weihnachtsoratorium“ dominiert das vorweihnachtliche Konzertleben in einer Weise, dass man fast glauben möchte, es gäbe keine andere Weihnachtsmusik. Viele unbekannte Chorwerke werden auch in Zukunft ein Schattendasein fristen, wenn die Chöre, bestehen sie nun aus Laien oder Profis, ihr Repertoire derart einschränken. Ein lebendiges Musikleben kann aus diesem Traditionalismus kaum entstehen. Wie dem auch sei, der Advent 2002 macht hier keine Ausnahme und bietet das „WO“ an, soweit die Augen und Ohren reichen. Eine besondere Stellung innerhalb der inflationären Aufführungen nehmen dabei natürlich diejenigen in der Thomaskirche ein. Vor allem hier, so scheint es, wollen die Leipziger“ihren“ Bach vorgesetzt bekommen, und nur hier werden mit Bussen herangekarrte Touristen von heiligen Schauern heimgesucht. Bachs Meisterwerk, in seiner Kirche, dargeboten von seinen Thomanern: Da wird es so manchem Aufsichtsrat schwindlig, und manch eine Pelzträgerin bekommt weiche Knie. Nachdem die lange Menschenschlange vor dem Kirchenportal absolviert und der Verkaufsstand mit CDs („mit den echten Thomanern!“) elegant umsteuert ist, kann es losgehen. Dass es wieder nur die Kantaten 1-3 gibt, versteht sich von selbst.

Dass Thomaskantor Georg Christoph Biller erkrankt ist, scheint nur im ersten Moment ein schlechtes Vorzeichen, denn der als Ersatz eingesprungene Gotthold Schwarz erweist sich bald als vollwertiger Ersatz. Er hat das Geschehen, auch in den komplizierteren Sätzen, immer im Griff und leitet die Aufführung zurückhaltend, aber bestimmt. Die Thomaner folgen seinem Dirigat, ohne sich eine eventuelle Unsicherheit anmerken zu lassen. Überhaupt sind die Thomaner heute gut in Form. Geraten die großen Chöre, wie das berühmte „Jauchzet, frohlocket!“, zum Teil auch etwas undurchsichtig, die wunderbaren Choralsätze überzeugen durch einen homogenen Klang und strahlen große Würde aus.

Die Solisten können nicht auf ganzer Linie begeistern. Akzente setzt vor allem Klaus Mertens, dem man seine große Erfahrung mit der Interpretation barocker Vokalmusik deutlich anmerkt. Die Arie „Großer Herr, o starker König“ wird bei Mertens zum Musterbeispiel müheloser Virtuosität, einer Virtuosität jedoch, die nie als Artistik daherkommt, sondern stets im Dienst der Musik steht. Die anderen Solisten machen ihre Sache zwar keineswegs schlecht; trotzdem wünscht man sich hier und da noch mehr Differenzierung. Thomas Cooleys Evangelist klingt häufig zu bemüht. Die Arie „Frohe Hirten, eilt, ach eilet“ meistert Cooley stimmlich zwar durchaus, lässt dabei aber immer wieder merken, welche Anstrengung ihn die vielen schwierigen Koloraturen kosten. Barbara Baier hat an diesem Abend wenig zu tun, enthalten die Kantaten 1-3 des „Weihnachtsoratoriums“ doch keine einzige Soloarie für Sopran. Im Duett „Herr, dein Mitleid, dein Erbarmen“ erweist sie sich jedoch als sensible Gestalterin, und man kann nur bedauern, dass ihr Part derart kurz ist. Anders verhält es sich mit der Altpartie. Die Altarien gehören zu den Höhepunkten des „Weihnachtsoratoriums“, werden bei Susanne Krumbiegel aber leider nicht immer zu solchen. Vieles bleibt zu blass, nur selten hört man mehr als anständige Routine, wie in der Arie „Schlafe, mein Liebster, genieße der Ruh“, welche Krumbiegel wunderbar zart und subtil ausgestaltet.

Ein besonderes Lob gebührt dem Gewandhausorchester, bzw. der heute aufspielenden Gala-Auswahl desselben. Sehr überzeugend beweisen die Musikerinnen und Musiker, dass man Barockmusik sehr wohl auf modernen Instrumenten interpretieren kann, ohne dass es historisch unangemessen wirkt. Wobei die Verwendung von Oboe d’amore und Laute durchaus in Richtung Originalklang weist. Frank-Michael Erben spielt ein edles, sanft leuchtendes Solo, welches der wunderbaren Klangkultur und Präzision des Orchesters ein besonderes Glanzlicht aufsetzt. Dieser Bach kann sich wirklich hören lassen – und das nicht nur in Leipzig.

Johann Sebastian Bach: Weihnachtsoratorium BWV 248, Kantaten 1-3

Barbara Baier, Sopran
Susanne Krumbiegel, Alt
Thomas Cooley, Tenor
Klaus Mertens, Bass

Thomanerchor
Gewandhausorchester

Leitung: Gotthold Schwarz

13. Dezember 2002, Thomaskirche zu Leipzig

Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.