Ein herzliches Willkommen

Das Gewandhausorchester mit Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 7 unter Leitung des italienischen Dirigenten Riccardo Chailly

Bedeutungsträchtiger kann ein Konzert wohl kaum sein – ging Riccardo Chaillys jüngstem Gastspiel in Leipzig doch die Unterzeichnung seines Vertrags als künftiger Chefdirigent in Gewandhaus und Oper (ab 2005) voraus. Dementsprechend ist es ein bunt gemischtes Publikum aus Musikliebhabern und Schaulustigen, das sich an diesem Abend im Großen Saal des Gewandhauses versammelt hat, um zu begutachten, was der baldige Nachfolger Herbert Blomstedts mit dem Gewandhausorchester musikalisch auf die Beine stellen kann. Aufgeführt wird Mahlers siebente Sinfonie und damit ein Werk, das Musikverständige und Laien gleichermaßen anspricht: Für erstere ist es eines der sperrigsten und rätselhaftesten Werke der sinfonischen Literatur überhaupt, für die anderen enthält es viel Temperament und noch mehr Folklore.

Chailly macht es allen recht: In einer perfekten Synthese aus äußerster Präzision und ungezügelter Energie präsentiert er einen Mahler von absolutem Weltrang. Minutiös erfüllt Chailly selbst die detailliertesten Partiturvorschriften des Komponisten und beweist damit in beeindruckender Weise, dass die unzähligen misstrauischen Vorgaben des komponierenden Dirigenten Mahler durchweg berechtigt sind und der Interpretation dankbare Hilfestellungen geben – wenn sie denn so befolgt werden wie hier. Gerade im besonders verwickelten Eröffnungssatz tragen Mahlers genaue Angaben zum Gelingen der dynamischen Staffelung der einzelnen Instrumentengruppen bei und helfen einem aufmerksamen Dirigenten, den Eindruck undifferenzierter Klangballungen weitgehend zu vermeiden. So vermag Chailly in hervorragender Weise Klarheit und Transparenz zu wahren, was bei Mahler weiß Gott nicht leicht ist.

Mahlers Siebente besteht aus fünf Sätzen völlig verschiedener Art. Eröffnet wird das Werk von einem ausufernden Sonatensatz von überaus komplexer Faktur: Die gekonnte Verknüpfung von langsamer Einleitung und Hauptsatz, das ständige Changieren zwischen Licht und Schatten und die experimentelle Orchesterbehandlung lassen diesen ersten Satz zu einer Belastung für Ausführende und Zuhörer gleichermaßen werden, bergen aber vor allem jene Zerrissenheit in sich, welche die ganze Sinfonie kennzeichnet. Vor allem die beiden Nachtmusiken (Sätze II und IV) wollen so gar nicht in die Architektur der Komposition passen, heben sich mit ihren extravaganten Effekten (Einsatz von Gitarre und Mandoline, sogar Kuhglocken) fast unangenehm von den übrigen Sätzen ab. Höchster intellektueller Anspruch und größte Banalität liegen wohl nur selten so dicht beieinander wie in dieser Sinfonie. Exemplarisch vorgeführt bekommt man diesen krassen Gegensatz im Finale, das plakative (und publikumswirksame) Geräuschhaftigkeit mit tiefer geistiger Durchdringung kombiniert. Eine endgültige Lösung für diesen formalen Konflikt – der Mahler selbst sehr wohl bewusst war – gibt es nicht; man muss sich aber klar machen, dass Volkstümlichkeit und Ausgelassenheit bei Mahler meistens einen doppelten Boden haben. Kuhglocken sind bei ihm nicht Ausdruck einer intakten Welt, sondern vielmehr ein zitierendes Heraufbeschwören jener Zeit, in der das Verhältnis von Mensch und Natur (vermeintlich) in Ordnung war. Wie man es auch dreht und wendet: Ein großer Riss durchzieht das ganze Werk, und er lässt sich beim besten Willen nicht aus der Welt schaffen.

Chailly versucht das auch gar nicht erst. Selbstbewusst stellt er schroffe, beinahe unzugängliche Passagen neben triviale Wendungen und betont so noch die unzähligen Brüche, statt sie zu kaschieren. Wie durch ein Prisma gebrochen erscheinen die verschiedenen Aspekte von Mahlers Sinfonik, ohne den vergeblichen Versuch, in eine starre Form zu zwängen, was nun einmal auseinanderstrebt. Fabio Luisi betonte in seiner Aufführung mit dem MDR Sinfonieorchester noch stärker den intellektuellen Gehalt der Sinfonie, wie Luisi überhaupt in seiner Herangehensweise an Musik wohl eher derjenigen Mahlers entspricht als Chailly, jedoch gehen beide Konzepte auf ihre Weise überzeugend auf.

Die besten Absichten nützen einem Dirigenten aber herzlich wenig, wenn er im Orchester nicht Musiker ersten Ranges zur Seite hat, die seine Vorstellungen adäquat umzusetzen verstehen. Bei Mahler ist er in solch einem Fall ganz und gar verloren. Mahler hat selbst immer wieder in Briefen darauf hingewiesen, dass seine Kompositionen erstklassige Musiker verlangen, um überhaupt aufführbar zu sein. Während er in seiner Dirigentenlaufbahn oft genug Anlass hatte, sich über unfähige Solisten zu ärgern, hätte er heute Abend in Leipzig seine Freude gehabt, soviel ist sicher; denn das Gewandhausorchester ist an allen Pulten erstklassig besetzt, ohne irgendwelche Abstriche. Mit großer Wandlungsfähigkeit in der Tongebung folgen die Streicher Mahlers ständigem Wechsel der Ausdrucksebenen, und die zahlreichen, zudem mehr als anspruchsvollen Soli der Holz- und Blechbläser, des Konzertmeisters Frank-Michael Erben und der „Exoten“ Schlagwerk, Gitarre, Mandoline etc. klingen schlicht makellos.

Der Jubel am Ende ist groß, was aber auch kaum überrascht. Verdient haben ihn alle Beteiligten gleichermaßen, nicht allein Maestro Chailly, dem die Ovationen wohl vor allem gelten. Das spektakuläre Finale der Sinfonie trägt, um es vorsichtig auszudrücken, sicherlich das seine zum tosenden Applaus bei. In erster Linie soll er aber wohl ein Signal an Riccardo Chailly sein, das besagt: „Willkommen in Leipzig!“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 7

Gewandhausorchester
Dirigent: Riccardo Chailly

03.04.2003, Gewandhaus, Großer Saal

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