„Shock and Awe“

Hugh Wolff dirigiert Haydn, Williams und Walton im Grossen Concert

Aus verschiedenen Gründen hat es die britische Sinfonik hierzulande nicht ganz einfach. Woran mag das nur liegen? Wer sich die Musikgeschichte als sozialrevolutionäres System zurechtgelegt hat, den lässt jenes scheinbar ungebrochene shake-hands mit der Tradition die Nase rümpfen. Aus ganz ähnlichen Gründen mag sich so mancher Kritiker nicht mit Sibelius anfreunden. Große, dicke Schinken, die eigentlich in unserem Jahrhundert nichts mehr zu suchen haben. Im Falle England: Brahms mit Blue Stilton und einem Gläschen alten Portweins, „Land of Hope and Glory“. Natürlich gibt es viel zartere Gesten, man denke nur an Elgars „Sea Pictures“, doch auch die scheinen irgendwie unmissverständlich kund zu tun, dass auch über diesem Meer die Sonne des Königreiches nicht untergeht. Roger Norrington hatte jüngst mit Vaughan Williams‘ fulminanter 4. Sinfonie eher verhaltene Anerkennung denn Begeisterung erhalten, nun macht sich Hugh Wolff auf, eine weitere Lanze zu brechen. Als Sohn amerikanischer Eltern in Paris geboren und aufgewachsen, früh zur Musik gekommen und als Mittzwanziger als Assistent von Rostropowitsch in Richtung Durchbruch gedriftet – so eine Biographie möchte man haben. Was Wolff aus dem Frankfurter RSO gemacht hat, verdient höchsten Respekt, und, soviel sei vorweggenommen, auch in Leipzig gestaltete er ein großartiges Konzert.

Wolff eröffnet geschickt in kleiner Besetzung mit einer Londoner Sinfonie von Haydn. Das macht gute Laune und zeigt, dass die Chemie zwischen Gewandhausorchester und dem Dirigenten stimmt. Immer wieder schön zu hören, was für ein Orchestermeister Haydn gewesen ist. Anspruchsvolle Soli, transparenter Klang – so soll es sein. Ralph Vaughan Williams‘ „Lark Ascending“ ist so etwas wie die englische Antwort auf „L’aprés-midi d’un faune!. Grüne Hügel, Schafe und Mauern statt griechischer Sagenwelt; melancholische Introversion statt erotischen Wirren. Das Werk besteht aus duftiger Streicherseide und ist so zart und lieblich, dass man beim Triangeleinsatz erschrickt. Was sich alles aus der pentatonischen Skala herausholen lässt, ist bestaunenswert. Das Orchester verstummt und minutenlang rhapsodiert Konzertmeister Frank-Michael Erben, bevor die Lerche in der Höhe verschwindet. Eigentlich ein Schlussstück: man möchte leise, leise hinausgehen und sich lächelnd in die Straßenbahn setzen.

Im 19. Jahrhundert war im Genre der Musikkarikatur jene Darstellung beliebt, die den Komponisten dabei zeigt, wie er mit Kanonen und Granaten aus dem Orchestergraben das Publikum niederkartätscht. Von Beethoven bis Strawinsky musste sich wohl jeder ernstzunehmenden Komponist schon einmal als Haubitzenmeister abbilden lassen. Das sollte wohl bedeuten „Nein, was für eine Kakophonie uns da aufgetischt wird“. Möglicherweise haben diese Bilder William Walton zu seinem sinfonischen Erstling angeregt, der den zweiten Teil des Konzerts einnahm. Die Sinfonie hat das Understatement einer Stalinorgel. „Warum vierfaches fortissimo“, mag sich Walton gefragt haben „wenn ich auch fünffaches kann?????“. Und so fliegen eine gute Dreiviertelstunde lang die Fetzen, dass es eine Art hat. Machtvoll poltern die fragmenthaften Themen daher und werden mit Brachialgewalt in bedrohlichem Dauertutti zu gewaltigen Gebilden ausgewalzt. Wie die Bezeichnung „con malizia“ schon verrät, sind auch im schnellen zweiten Satz keine Nettigkeiten zu erwarten. Laut, lauter, noch lauter. Das entwickelt einen sehr eigenen Reiz, da sich Walton nicht nur im „feste druff“ erschöpft, sondern bei seiner kapitalen Durchschnittsphonstärke differenzierte Instrumentationseffekte in Verbindung mit spannender, an Strawinsky geschulter Rhythmik erreicht. Der dritte Satz nimmt sich dagegen deutlich zurück. Von einem nachlassenden Spannungsbogen kann allerdings nicht die Rede sein und spätestens hier scheint eines von Waltons Vorbildern deutlich auf: Jean Sibelius. Das Adagio klingt, als hätte der „Schwan von Tuonela“ einen schlechten Trip eingeworfen und schliefe in irgendeinem unerfreulichen Winkel seinen Rausch aus. Auch meine Nachbarin schläft derweil ein und schnarcht leise vor sich hin, wird aber vom Stahlgewitter des letzten Satzes wieder aufgeweckt. Das muss man freilich nicht mögen, dennoch ist diese Sinfonie ein Riesenvergnügen, dass auch die Orchestermusiker sichtlich genießen.

Danach saß Rez. mit Hofrat Rochlitz und dem Kapellmeister a.D. Reinecke wie üblich im „Coffee-Baum“ beim Biere. Der alte Reinecke war ganz aufgelöst und hatte Tränen in den Augen. „Nein, das ist nicht fein, das ist nicht fein … so ein junger Mann und schreibt so gemeine Musik … die Jugend soll sich doch des Lebens freuen und rüstig fröhlich fürbass schreiten“. „Gewisslich wahr, lieber Reinecke“ – Rochlitz zwinkerte mir zu, „aber harte Zeiten verlangen nun einmal harte Musik, und das ist doch an dieser Stelle vortrefflich gelungen. Doch hätt ich mir nicht träumen lassen, dass dereinst überhaupt noch Sinfonien geschrieben werden“ – und nahm einen tiefen Schluck.

Hugh Wolff im Gewandhaus.

10.04.2003, Gewandhaus, Großer Saal

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