Eine Idee, für die die Welt noch nicht bereit ist

Klangfarben sind mehr, als wir uns bisher träumen ließen: ein Porträt des Leipziger Komponisten Wolfgang Krutzsch

Oft entsteht das Besondere aus dem Alltäglichen. So auch im Leben von Wolfgang Krutzsch: Ein Konzertbesuch sollte den Anstoß geben für eine Idee, die ihn, den Gewandhausgeiger, seitdem nicht mehr losgelassen hat. Damals, 1979, gastierte Karajan mit den Berliner Philharmonikern in Leipzig, eine Mozartsinfonie wurde aufgeführt. Krutzsch im Publikum genoss die Musik, als er plötzlich eine Bewegung des Dirigenten beobachtete, die ihn faszinierte wie keine je zuvor: Karajan fuhr mit der Hand durch die Luft, formte einen langen Bogen, der dem Melodieverlauf nachempfunden war und drückte damit etwas aus, was für Wolfgang Krutzsch nun die Essenz aller Musik und jeden Komponierens ist: „Musik darf nicht in Takte gepresst sein, sie muss frei und individuell geformt werden.“

Für ihn stand fest, dass man eine neue Form des Komponierens und Notierens brauchte.

Heute, 24 Jahre später, erklärt er das Prinzip, nach dem seine circa fünfzig Werke entstanden sind: Jeder Orchesterstimme wird eine Farbe zugeteilt (z.B. gelb für die Ersten Geigen). Die Aktionen der Instrumente werden dann, da weder Notenlinien noch Takte existieren, in der Partitur durch breitere und schmalere Striche, Bögen, Stichnoten mit Tonhöhenangaben und Stufengebilde dargestellt. Das klingt hier wohl komplizierter, als es tatsächlich ist. Der Dirigent, der die Partitur übrigens von rechts nach links liest – um die die Musik darstellenden Handbewegungen für das Orchester nicht spiegelbildlich erscheinen zu lassen -, zeigt einzelne Aktionen an, die Musiker aber können sich selbst mit einbringen. Jeder hat in seiner Stimme Stichnoten von anderen Instrumenten, um zu wissen, was dort vorgeht. Die eigene Kreativität und Freiheit soll jedoch nicht durch strenge Notenvorgaben eingeschränkt werden. Krutzsch: „Musik muss Spaß machen und auch schön klingen. Ich möchte nichts komponieren, was beim Spielen und Zuhören keine Freude macht.“

Um diese Begeisterung auf die Musizierenden zu übertragen, benutzt er zum Beispiel bei seiner „Nachtsinfonie“ schwarzes Papier für die Partitur, damit der Dirigent die beabsichtigte Stimmung auf das Orchester übertragen kann; wenn es in der „Nachtsinfonie“ dann langsam Tag wird, verwendet der Komponist auch helleres Papier. Farben verstärken, so Krutzsch, die Anschaulichkeit, die Musik wird besser darstellbar – das ist es, was er mit seiner einzigartigen Form der Notation will.

Wenn der 75-jährige von seinen Werken – von Streichquartetten und Violinkonzerten über zahlreiche sinfonische Kompositionen bis hin zu einem Weihnachtsoratorium – erzählt, klingt er stolz, seine Augen leuchten und übertragen die Begeisterung für Farbe in der Musik automatisch auf den Zuhörer. Doch kommt das Gespräch auf die Aufführungen und Publikumsreaktionen, wirkt Krutzsch plötzlich müde, resigniert.

250 Absagen aus aller Welt hat er bekommen, manchmal wurden seine Einsendungen nicht einmal geöffnet. Zahlreiche Partituren wurden angeblich gesichtet, aber nie zurückgeschickt, geschweige denn von einem Orchester eingeübt. Krutzsch, der 1956 aus Dresden kam und 35 Jahre Geiger im Gewandhaus war, ließ nichts unversucht, um andere für seine Kompositionen zu begeistern: In den 1980er Jahren überredete er Kurt Masur dazu, ihm das Gewandhausorchester für eine Probe zu überlassen. Als jedoch dieser nach kurzer Zeit wiederkam und Ergebnisse sehen wollte, war der Komponist noch nicht soweit und das Experiment wurde als gescheitert betrachtet. Musikverlage wie Schott, Bärenreiter oder Breitkopf & Härtel lehnten den Druck der Stimmen und der Partitur ab, nahmen selbst in üblicher Form notierte Kompositionen nicht an; Gastdirigenten im Gewandhaus reagierten, von Krutzsch auf eine eventuelle Aufführung angesprochen, ablehnend.

„Ich verstehe das nicht“, sagt er immer wieder und schüttelt den Kopf. Zehn seiner Werke hat er je gehört, teilweise von Laienorchestern gespielt oder in Bearbeitungen für Klavier statt Orchester. Er holt eine CD hervor, eine Aufnahme seiner „Dramatischen Ballade“, aufgeführt 1996 bei einer Feier der Christengemeinschaft in Leipzig. Eigentlich für Violine und Orchester, aber auch hier ersetzt das Klavier das Ensemble. Der Eindruck beim Hören: Unverständnis über die zahlreichen Ablehnungen dieser Musik. Sie klingt schön, manchmal fast romantisch und nie disharmonisch. Krutzsch hatte sogar zwei Termine für Aufführungen, die aber wieder – wegen von ihm abgelehnter Umarbeitungen bzw. wegen Krankheit – abgesagt wurden. Seine Erkenntnis: ?Dadurch, dass Aufnahmen und Konzerte weitestgehend ausbleiben, wird auch die Presse nicht aufmerksam auf mich. Das einzige, was mal im Gewandhaus von mir war, ist eine kleine Vitrine mit einigen Beispielen aus meinen Werken gewesen – aber das war noch vor der Wende.-

Eine Erklärung für das anhaltende Desinteresse an den meisten seiner Werke hat er nicht; jedoch vermutet er: „Viele Dirigenten haben Angst davor, sich vor den Musikern zu blamieren, wenn sie nicht schnell genug das neue System begreifen. Die sind nicht experimentierfreudig, haben zu wenig musikalisches Vorstellungsvermögen. Und die meisten Zuhörer gehen dann auch lieber zehnmal zu Herrn Bach, als sich etwas Neues anzuhören.“

Vor kurzem hat Krutzsch ein Violinkonzert vollendet – es soll seine letzte Komposition sein. Drei Monate hat er täglich daran gearbeitet, nun ist sie fertig. Ob sie vielleicht irgendwann aufgeführt wird, ist fraglich. „Ich versuche immer weiter, bis zum letzten Tag, meine Werke zur Aufführung zu bringen“, so der enttäuschte Künstler, „aber Komponieren werde ich nicht mehr.“

Kürzlich sprach Wolfgang Krutzsch mit dem Leipziger Bürgermeister Tiefensee, der berichtete, dass auch sein Vater viele unaufgeführte Werke komponiert habe. Ein wirklicher Trost ist das jedoch nicht für jemanden, der sein Lebenswerk quasi der Schreibtischschublade widmen muss. Da möchte man fast fatalistisch meinen: So ist es eben mit Ideen, die ihrer Zeit voraus sind.

Wolfgang Krutzsch – Ein Komponistenporträt

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