Das Völkerschlachtdenkmal unter den Orgelkonzerten

Das Gewandhausorchester unter Jonathan Nott spielt Haydn,Hindemith,Ligeti und Elgar im Grossen Concert

Wie kürzlich Hugh Wolff, wählt auch Jonathan Nott eine Haydn-Sinfonie als Einstieg, wozu sie sich auch prächtig eignet; dient sie doch mit der kleineren Besetzung zum Atemholen vor einem eigenwilligen und spannenden Programm.

Zunächst Musik für die Augen: Das gewaltige Aufgebot von Musikern, welches auf das Podium brandet, erinnert verdächtig an Albrecht Altdorfers „Alexanderschlacht“. Der Spieltisch der Gewandhausorgel wird herangerollt, und flatternden Haupthaares bezieht Gewandhaus-Organist Michael Schönheit seinen Posten. Was sich hier optisch und akustisch bereits anbahnt, ist Paul Hindemiths zweites Orgelkonzert (1962). Über diesem, einem der letzten Werke des Komponisten, scheint als heimliches Motto „Das muss kesseln“ zu stehen, und wieder einmal ist zu sehen und zu hören, warum Musiker so gern Hindemith spielen: Jeder bekommt viel zu tun, kann sich tüchtig in die Riemen legen, und beeindruckend klingt es auch noch.

Im Gegensatz zum ersten, fast kammermusikalischen Orgelkonzert aus den 1920er Jahren ist das zweite ein wahres Monstrum. Vom eröffnenden machtvollen Orchestercrescendo bis zum Hyperfortissimo des letzten Satzes packt es den Hörer am Kragen und schüttelt ihn eine gute halbe Stunde lang kräftig durch. Das ungemein reiche Stück zieht, soweit das überhaupt möglich ist, eine Summe aus Hindemiths Schaffen. Manchmal tritt jedoch der Eindruck hinzu, als sehe sich hier ein Komponist im sportlichen Wettbewerb („Wer schreibt den ausgefuchstesten Kontrapunkt? Wer kriegt den exzentrischsten Variationensatz hin? oder auch „Wer kann am lautesten?“) Nichtsdestoweniger ist Hindemiths beinahe schon anachronistisch zu nennender Versuch, am Anfang der 60er Jahre noch einmal eine monumental angelegte Konzertform (mit Variationen über „Veni Creator Spiritus“!!) zu realisieren, äußerst mitreißend. Dazu tragen natürlich das hervorragend eingespielte Orchester und der sicher agierende Solist bei. Jonathan Nott stellt die rauen Klangfarben und die fantastische Instrumentierung deutlich in den Vordergrund und vermag die Massen für das wahrlich nicht leichtverdauliche Stück, das Völkerschlachtdenkmal unter den Orgelkonzerten, zu begeistern.

Welten liegen zwischen Hindemiths Konzert und György Ligetis – zeitgleich! – entstandenen „Atmosphéres“. Nott wählte damit ein geradezu klassisches Werk aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ligeti ist ein Meister des Versteckspiels: Seine berühmten „Klangflächen“ sind verwickelte Kanons – die polyphone Arbeit ist jedoch nicht zu hören sondern resultiert in einem Klangzauber, der auch noch dem fantasielosesten Gesellen synästhetische Visionen eingeben dürfte. Diese Musik scheint zu leben, unterschiedliche Farbschattierungen anzunehmen, zu zerreißen, abzustürzen, zu glänzen – und wenn dieses Filigran auch kurz vor dem Verlöschen nicht ein einziges Mal vom traditionellen Husten und Keuchen zerrissen wird, ist das der schönste Indikator für den Grad der allgemeinen Entzückung. Für einen unerwarteten Klangeffekt sorgt allerdings einer der Schlagzeuger, die das Innere eines Flügels mit Jazzbesen bestreichen. Kurz vor Schluss, in einer besonders fragilen Passage, fällt ein Drumstick aus der Hand und – krachpling! – auf den Flügel; man meint in der Fast-Stille zu vernehmen, wie dem Delinquenten das Blut in den Kopf schießt…

Zum Schluss gibt es wieder Britisches – mit Elgars „Enigma Variations“ kann man kaum falsch liegen, gerade wenn man, wie Nott, bereit ist, auch die dunklen und exzentrischen Seiten der Partitur hörbar zu machen. Wer möchte sich über den etwas grellen Blechbläserklang beschweren?! Ich nicht!

Großes Concert

Joseph Haydn: Sinfonie Nr. 88 G-Dur Hob. I:88
Paul Hindemith: Orgelkonzert Nr. 2
György Ligeti: Atmosphéres
Edward Elgar: Enigma-Variationen op. 36

Gewandhausorchester
Jonathan Nott, Leitung
Michael Schönheit, Orgel

8.5.2003, Gewandhaus, Großer Saal

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