Zwischen Nietzsche und „Bim bam!“

MDR-Chor und –Orchester geben Mahlers Dritte unter Dirigent Fabio Luisi im Gewandhaus

Bei Mahlers dritter Sinfonie handelt es sich in nahezu jeder Hinsicht um ein außergewöhnliches Werk. Da sind zum einen die extrem geweiteten zeitlichen Dimensionen (Dauer: 110 Minuten!), zum anderen die Kombination von Orchester, Solostimme, Frauen- und Kinderchor. Die formale Anlage der Sinfonie gehört mit ihren sechs Einzelsätzen ebenso wenig zum täglichen Brot des Konzertbetriebs wie die beeindruckende Zahl von Mitwirkenden, welche die 150 weit übersteigt. Die ungewöhnlichsten Aspekte dieses Ausnahmewerks finden sich jedoch auf inhaltlicher und musikalischer Ebene. So wie das „Programm“ der Sinfonie zwischen ernsten Nietzschezitaten und unbeschwertem Kinder- „Bim-bam!“ schwankt, so bewegt auch die Musik sich oft zwischen intellektuellem Anspruch und trivialsten Effekten unvermittelt hin und her. Dennoch gelang es Mahler, aus Posthornmelodien und kreischender Militärmusik ein Gebilde zu formen, das als zusammenhängendes Ganzes wahrgenommen werden kann – so erstaunlich dies auch ist.

Von ausgesprochenen Mahlerverehrern einmal abgesehen, stellt die dritte Sinfonie das Auditorium vor eine nicht zu unterschätzende Geduldsprobe. So aufgeschlossen man dieser Musik auch gegenüberstehen mag, nach 90 Minuten ist einfach eine Grenze der Aufnahmefähigkeit erreicht. Die größte Ausdauer wird aber von den Musikern verlangt, die fast zwei Stunden lang alles geben müssen, allen voran natürlich der Dirigent. Tatsächlich lässt sich gegen Ende der heutigen Aufführung an vielen Pulten eine leichte Abnahme von Konzentration und Disziplin verzeichnen, welche in der zunehmenden Unruhe im Saal eine interessante Entsprechung findet. Zum mitreißenden Finale der Sinfonie kommen aber alle wieder zu sich und einmütiger Jubel belohnt eine Konzertdarbietung, die in der Tat als rundum gelungen bezeichnet werden kann.

Bereits der erste Ruf der acht(!) Hörner erklingt in vollendeter Klangkultur. Was im weiteren Verlauf des Nerven aufreibenden ersten Satzes geboten wird, überzeugt in gleichem Maße: Schneidende Töne der Piccoloflöte, lärmende Blechbläser und subtile Soli des Konzertmeisters Andreas Hartmann lassen keine Wünsche offen, zumal sie sich zwingend in Fabio Luisis zupackendes Konzept fügen, das Mahlers grelle Ausbrüche bis zur Schmerzgrenze steigert. Der zweite Satz bildet einen kaum überbrückbaren Kontrast zum monumentalen ersten. Luisi versucht auch gar nicht erst zu vermitteln, sondern lässt hier vielmehr zwei Welten aufeinander prallen, die schlicht unvereinbar sind und bleiben. Die Posthorn-Soli des dritten Satzes tönen zwar nicht in letzter Vollendung von der Orgelempore, fügen sich aber doch gut in den Orchesterklang ein.

Im vierten Satz wird erstmals die menschliche Stimme ins Geschehen einbezogen. Dagmar Peckova gestaltet die Nietzscheworte („O Mensch, gib acht!“) sehr feinsinnig und überzeugt vor allem in der Höhe durch große Nuancierungskunst. Der fünfte Satz vereint Altsolo, Frauen- und Kinderchor zu einem naiv-erbaulichen Gesang („Es sungen drei Engel“), bevor sie alle nach wenigen Minuten bereits wieder verstummen. Das „Bim-bam!“ des MDR Kinderchores verbindet sich mit dem Wunderhorngesang der Frauen in berückender Klangmagie, wodurch der große Personalaufwand für so wenige Minuten Musik nicht mehr ganz so unverhältnismäßig wirkt.

Der Schlusssatz mit seinem apotheotischen Bläserchoral setzt, trotz der spürbaren Ermüdung der Musiker, einen würdigen Schlusspunkt unter eine hervorragende Aufführung. Fabio Luisi hat alles gegeben und dafür fast alles bekommen.

Im Anschluss an das Konzert präsentierte der MDR eine neue CD mit Werken für Männerchor und Hornquartett. Eine Rezension dieser ungewöhnlichen Produktion findet sich im Leipzig-Almanach unter der Rubrik „Empfehlungen“.

Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 3 d-Moll

MDR Sinfonieorchester
MDR Rundfunkchor (Damen)
MDR Kinderchor
Dagmar Peckova, Alt
Dirigent: Fabio Luisi

25.5.2003, Gewandhaus, Großer Saal

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