Abbas Kiarostamis neuer Film „Ten“
Eine Autofahrt durch Teheran. Im Blickfeld des Zuschauers stets eine einzige Person, der Beifahrer oder die Fahrerin, im Hintergrund dokumentarisch das Treiben auf den Straßen.
Störrisch blickt der kleine Amin aus dem Fenster. Eine Spannung liegt in der Luft. Und dann ist es wieder so weit: Während seine Mutter ihn zum Schwimmbad fährt, eröffnet sie das leidige Thema: Dass es seinen Grund habe, dass sie sich von seinem Vater trennte und ob er denn nicht zu ihr und ihrem neuen Mann kommen wolle… Der kleine Junge flippt aus, schimpft wie ein alter Patriarch und hält sich die Ohren zu – das ist zuviel! Für den einen ist die Situation so schwierig, weil die Trennung, allein das Reden darüber, so unerträglich ist, für den anderen, weil es unmöglich ist, die Härte der sachlichen Argumente für Kinderohren zu formulieren. „Frauen haben hier keine Rechte“, fleht sie um sein Verständnis, „Ich war wie eine lebendige Tote“.
Aber Kiarostamis Film zeigt nur beiläufig die sozialen Missstände auf, so wie er nur beiläufig in einer unscheinbaren Autofahrt aus zehn Episoden fünf Mitfahrerinnen und den Jungen erzählen lässt, die allesamt das Leben dieser einen Frau, der Fahrerin und Mutter, portraitieren. Am Ende der hitzigen Diskussion erscheint sie zum ersten Mal im Bild: eine junge, moderne und hübsche Iranerin im offenen weißen Schleier, von der wir erfahren werden, dass sie fotografiere, male und reise. Die Schnitte sind ungewöhnlich ruhig, so ruhig, dass oftmals eine ganze Episode lang die Einstellung auf eine einzige Person gerichtet ist.
Eine Frau in schwarzem Schleier steigt ein, ihre Schwester, die über die Männer hinaus etwas über Amins Erziehung mitzuteilen hat. Eine alte Frau berichtet von ihrem verlustreichen Leben und ihrem unbeirrbaren Glauben an Gott, während sie ein Stück mitgenommen wird auf dem Weg zum Mausoleum, wo sie dreimal täglich beten geht. In einer Nachtfahrt redet aus dem Off eine Prostituierte, die sich im Auto geirrt hat. Mit Männern und Sex finden die zwei sofort ihr gemeinsames Thema. „Glaubst Du, dass Du ruhiger bist?“, fragt die Fahrerin sie über ihren offenen Umgang mit Männern. „Ich bin ruhig“, antwortet sie, als ob die Ruhe das Ziel des Lebens wäre. Dann aber steigt sie aus, getrieben, einen neuen Freier zu suchen.
Stillstand ist nur ein temporäres, vielleicht nur ein scheinbares Glück in Abbas Kiarostamis Filmen. Die Bewegung ist sein Motiv. Allein das Fahrzeug ist im Zustand ständiger Bewegung – genau wie der Ingenieur aus seinem letzten Film, „Der Wind wird uns tragen“, der für den besseren Empfang seines klingelnden Handys immer wieder den Hügel des kleinen Dorfes hinauf hetzt und wieder hinabsteigen muss. Darin findet sich ebenso eine ständige Wiederkehr wie in TEN, dann nämlich, wenn Amin wieder einmal auf der Straße die Fahrzeuge wechselt, von dem seines Vaters in das seiner Mutter steigt, und von ihr fordert: „Bring mich zu Großmutter!“. Und alles bleibt beim alten. Oder dann, wenn die Fahrerin einer Frau von der Begegnung mit der Alten erzählt: „Ich habe eine Frau kennengelernt, die sagte, wenn du hier betest, werden deine Wünsche erfüllt.“ Aber, auch diese Beifahrerin geht regelmäßig beten und bleibt doch entgegen ihrer Wünsche der Spielball ihres Mannes.
So haben die Filme des iranischen Altmeisters spätestens seit „Der Geschmack der Kirsche“ (Goldene Palme in Cannes 1997) und „Der Wind wird uns tragen“ (Großer Preis der Jury in Venedig 1999 u.a.) eine Form angenommen, die weit über die konkreten Erkenntnisse der Figuren hinaus geht zu philosophischen Reflexionen, losgelöst von Ort und Zeit. Doch bleiben Ideen, Motive und Schlüsselszenen besonders individuell für den Zuschauer zu verstehen und in ihrer Vielfalt unendlich deutbar. Dabei ist TEN keineswegs symbolisch überladen. Und wenn die Fahrerin sagt: „Alles ist Schicksal, komme was wolle“, dann mag das als Anstoß, als Motiv wie schlicht als banale Phrase der Alltäglichkeit dienen, in der diese einfachen Geschichten zu finden sind.
Aber TEN ist nur scheinbar simpel gestrickt. Es mag dem Zufall gelungener Improvisation mit einfachsten technischen Möglichkeiten, den Schauspielern, deren Rollen ein Eigenleben entwickeln, oder auch der Souveränität seiner unverkennbaren Filmsprache geschuldet sein, dass Kiarostami erneut ein offenes Kunstwerk entwirft. Form und Inhalt werden zunehmend minimalistischer, als ob sich in der Simplizität das Konzentrat der Erkenntnis verbirgt.
Die Entscheidung für eine emotionale oder intellektuelle Wahrnehmung von TEN entfällt, wenn man sich eingesteht, dass das Glück zum Greifen nah ist: Auf einer Fahrt, die ebenso geprägt sein könnte vom üblichen Streit, liegt zwischen Mutter und Sohn eine ungewöhnliche Entspannung. Keine Liebeserklärung folgt und keine Weisheiten, nur ein Lächeln der beiden und ein Scherzen über eine neue Frau für den Vater. Nicht so hübsch wie sie selbst wird sie sein, meint die Mutter. Oh doch, meint der Sohn, und sie werde ihrer Verantwortung im Haus nachgehen und abends nicht immer das Gleiche kochen!
Ten
Frankreich / Iran 2002
Regie, Buch, Kamera: Abbas Kiarostami
Darsteller: Manie Akbari (Fahrerin), Amin Maher (Amin), Kamran Adl, Roya Arabashi, Amene Moradi, Mandana Sharbaf, Katayoun Taleidzadeh.
94 Min., OmU
Kinostart: 10. Juli 2003
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