„At krö usch krö fre!“- Schleiermacher vertont Müller

Der MDR Musiksommer-Klangrausch : „!Sanglos – klanglos?” mit Steffen Schleiermachers „Das Testament des Ödipus“(2002), Deutsche Erstaufführung

Steffen Schleiermacher vertont ein Fragment von Heiner Müller. Das Fragment heißt „Das Testament des Ödipus“, wurde vom Meister des Betonklotzdramas jahrzehntelang vor sich hergeschoben, bis ihm 1995 der Sensenmann den Syntaxfaden ein für allemal durchschnitt. Schleiermacher droht an, dass es keine Pause geben und darüber hinaus auch noch sehr laut werden würde („Vielleicht zum Trost: Es gibt auch leise Stellen, aber nur wenige.“). Synthesizer, Saxophon, Schlagzeug und zwei Stimmen, die, so wurde uns versprochen, alles machen außer traditionellem Gesang. Au weh, klingt humorlos und schon schiebt man prophylaktisch im Kopf Satzbausteine für einen Verriss hin und her, da geht das Licht aus und ein violetter Spot bescheint die in violette Gardinenstoffbahnen gewandeten Sänger.

Entwarnung! Die Lautstärke liegt noch weit unter dem zeitgleich hundert Meter weiter stattfindenden Kinderfest „Rock die PhilFak“, Schleiermachers Musik ist über weite Strecken spannend (im wörtlichen Sinne und nicht á la „Das ist sicher spannende Musik, aber..“) und geht mit dem Text eine bemerkenswerte Verbindung ein. Doch vor allem der Vokalpart vermag zu begeistern: Schleiermacher verzichtet zumeist auf Kreischen, Heulen, Winseln, die ewigen verminderten Quinten, weite Sprünge und was dergleichen mehr im mittlerweile gut abgehangenen Repertoire moderner Vokalmusik zu finden ist. Melodramatische Rezitation herrscht vor, mal durchs Megaphon verstärkt, mal geflüstert. Erfreulich, dass der Text jederzeit gut zu verstehen ist und sich der Gehalt der Müllerschen Prosa unmittelbar erschließt:

Ödipus hat kurz vor jener unappetitlichen Geschichte mit Iokastes Kleiderspangen ein Testament aufgesetzt, in dem er seine Söhne – Eteokles und Polyneikes – zur Nachfolge bestimmt. Jeder soll zunächst ein Jahr regieren, wer im Alphabet an erster Stelle ist, darf zuerst. Klar, dass der mit P zunächst eine Entalphabetisierungskampagne anleiert und gar das altgediente Alphabet als semitisch-afrikanisch-intellektuell-dekadent-arbiträre-(freimaurerisch-neokonservativ-kommunistische-…) Erfindung zu entlarven sucht – was natürlich dem „E“-Kandidaten überhaupt nicht passen kann. Flugs wird das Alphabet („At Fre Krö Usch“) von den Schergen des Eteokles wieder indoktriniert und zur gottgegebenen Natur erklärt, einzig freilich zu dem Zweck, Polyneikes auszubooten. E lässt sich krönen und hält erstmal eine Rede, natürlich nicht mit dem klassischen Alphabet, sondern dem Atfrekröt. Das gemahnt erstaunlich an Charlie Chaplins Diktator Anton Hynkel und wie bei Chaplin weiß man auch hier, worum es geht. Dann werden die Beamten eingesetzt, sie bekommen Bretter vor den Kopf genagelt und Messingklappen auf die Ohren getackert, um sich nicht von Volkes Stimme ablenken zu lassen. Das Volk wird den üblichen Belustigungen ausgesetzt und mit einem Quodlibet aus übereinandergeschichteten Bierzeltschlagern endet die Vorstellung.

Wie kommt es eigentlich, dass bei all dem, was man sich in der Instrumentalmusik so leistet, die „technisch gebildete Stimme“ mit der Stütze und dem offenbar nicht auszuknipsenden Dauervibrato „den“ Gesang, mit allen standardisierten Topoi des „Ausdrucks“ repräsentiert. Doch es geht in diesem Fall. Schleiermacher hat bei der Komposition und der Stimmendisponierung beim „Ödipus“ eine sehr glückliche Hand gehabt. Dazu hervorragende Interpreten, die mit sichtlichem Vergnügen vortragen. In manchen Momenten erinnern Theater und Musik auffällig an die Prog-Rock-Shows der Siebziger. King Crimson und Yes lassen durchaus auch musikalisch grüßen. Gewänder, Licht und Schleiermacher, der wie ein reinkarnierter Rick Wakeman hinter den Tasten thront, orgelartige Klänge zum besten gibt; eigentlich fehlt nur noch der Kerl mit der Doppelhalsgitarre. Virtuose Soli für alle Instrumente lassen staunen und nehmen die Musiker sichtlich mit (der erste Weg nach dem Konzert führt den Schlagzeuger nebenbei bemerkt unmittelbar gen Zapfanlage und einem wohlverdienten, eiskalten Krostitzer).

Überdurchschnittlich anhaltender Applaus; „Pssst, nu klatschense man nicht so viel“, mufft Schleiermacher in die Menge, „wenn’s Ihnen gefallen hat, kommse morgen wieder!“. Mach ich doch gern!

MDR Musiksommer. Klangrausch – „!Sanglos – klanglos?“

Steffen Schleiermacher: Das Testament des Ödipus (2002). Deutsche Erstaufführung.

Truike van de Poel, Christopher Jung – Stimmen
Steffen Schleiermacher – Tasteninstrumente
Stefan Stopora – Schlagzeug
Martin Losert – Saxophon

03.07.2003 MDR-Studio am Augustusplatz

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