Die Kunst des Gefangenseins

Internationale Filme auf der 3. Leipziger Filmmesse

Neben dem Schwerpunkt deutscher Film widmet sich die Filmmesse exklusiv dem Segment des Arthouse, was die Veranstalter bereits durch den Eröffnungsfilm unmissverständlich klar stellten. Der gleichermaßen renommierte wie umstrittene bildende Künstler und Filmregisseur Peter Greenaway kehrt mit The Tulse Luper Suitcases zur begrifflichen Ursprünglichkeit der Filmkunst zurück und erhebt dadurch nicht weniger Anspruch, als ein neues Zeitalter des Kinos einzuläuten. Die Hälfte der anwesenden Programmkinobetreiber veranlasste dieser Kunstfilm jedoch vor allem dazu, fluchtartig aus dem Saal zu stürmen.The Tulse Luper Suitcases – Part I: The Moab Story ist der erste Teil einer Trilogie, die sich einfügt in ein multimediales Mammutprojekt. Neben dem Kino präsentiert es sich durch eine Fernsehserie, DVDs, CD-ROMs, das Internet sowie das geschriebene Wort und hat einen besonderen Bezug zu Leipzig durch die Kooperation mit dem hiesigen Institut für Theaterwissenschaft und einige Dreharbeiten im UT-Connewitz für den zweiten Kinofilm, der soeben in Venedig Premiere feierte. Das Projekt widmet sich dem Leben des Malers und Schriftstellers Tulse Luper, einer von Greenaway vermutlich als Alter Ego kreierten Figur (gespielt von J.J. Feild), die die Geschichte des letzten Jahrhunderts von der Entdeckung des Urans 1928 in Colorado bis zum Fall der Berliner Mauer genuin seziert und durchlebt. Fragmentarisch assoziativ ist die Erzählstruktur ebenso zergliedert wie die Bild- und Tonebenen, was den Film zu einem Feuerwerk der Effekte macht. Ordnen soll das Chaos scheinbar die Zahl 92, ebenso Ordnungszahl von Uran, aber auch die endgültige Anzahl der Koffer Tulse Lupers oder der „92 objects to represent the world“, wie etwa eine vermeintlich triviale Vase, die den universal erklärerischen Anspruch des Films markieren.

Greenaway schafft sich sein Lebenswerk – artifiziell und monumentös. Allen anderen bleibt The Tulse Luper Suitcases bisweilen aber vor allem bruchstückhaft erfassbar. Zum einen drängt sich der da Verdacht auf, dass Greenaway viel eher die Geschichtsschreibung an sich interessiere als die Geschichte selbst. Zum anderen scheint der Film durch Lupers ständige Gefängnisaufenthalte auch eine Erzählung über das Gefangensein zu suggerieren, aus dem Luper letztendlich eine Kunst entwirft. Ein Erzähler kommentiert dies nachdenklich, ihr Gefängnis trügen die meisten Menschen bereits mit sich herum – sei es in Form einer Person, von Sex, einer Erinnerung oder einer Idee.

Rachida

Unter diesem Aspekt des Gefangenseins erscheinen auch andere Filme auf der Messe. In Rachida von der algerischen Filmemacherin Yamina Bachir Chouikh ist dies am offensichtlichsten. Es ist das Gefängnis des religiösen Fundamentalismus, das diesen Film zu einem politischen, anklagenden und beinahe hoffnungslosen macht.

Die junge Lehrerin Rachida (Ibtissme Djouadi) wird auf offener Straße mitten in Algier von jungen Fundamentalislamisten genötigt, eine Bombe in ihre Schule einzuschleusen. Als sie sich weigert, wird sie niedergeschossen und schwer verletzt. Mit ihrer Mutter flüchtet sie aufs Land, wird aber bald wieder heimgesucht von den traumatischen Erinnerungen und der Allgegenwärtigkeit des Terrors.

Mit einer bezaubernden Protagonistin zeichnet die Regisseurin einfühlsam ein persönliches Portrait, weniger kunstvoll als zuweilen dokumentarisch und sehr emotional, ohne aber jemals in den Kitsch abzugleiten. Zugleich ist Rachida vor allem auch ein Film über die Reaktionen auf den Terror, dessen Alltäglichkeit hier überhaupt erst bewusst gemacht wird durch die unvermummten Attentäter Rachidas, von denen sich einer sogar als ihr ehemaliger Schüler erweist. Der Film erzählt viele Nebengeschichten aus dem Leben des Dorfes und prangert dabei immer wieder das feige Schweigen der Umwelt an. Den doppelt unterdrückten Frauen steht die Rolle der erfahrenen, weisen Mutter gegenüber. Aber, es ist an der Zeit, dass sich die von Angst und Leid gezeichnete und dennoch nicht entmutigte junge Tochter und mit ihr die jüngere Generationen gegen die Gefangennahme durch den religiösen Wahn wehrt. Ein nur vermeintlich unscheinbarer, ohne Zweifel gelungener Film, der die Neugier weckt auf algerisches Kino.

Nói Albinói

Man wäre geneigt, den Jungen Nói in der isländischen Abgeschiedenheit in einem ähnlichen Gefängnis zu sehen, vergäße man, dass die Toten hier keine grausame Realität darstellen, sondern eine fabelhafte Groteske der Erlösung. Eingeschlossen in ein kleines Städtchen deutet bereits die märchenhafte Schneelandschaft des nördlichen Islands auf den phantastischen Charakter Dagur Káris ersten Langspielfilms Nói Albinói hin.

Nói (Tómas Lemarquis) lebt bei seiner Großmutter und besucht hin und wieder seinen alkoholabhängigen Vater, schwänzt die Schule und vertreibt sich die Zeit lieber in dem Antiquariat eines Freundes oder bei einem Malzbier an der Tankstelle. Erst der Schulpsychologe vermutet, dass sich hinter dem als geistig zurückgeblieben Eingestuften womöglich ein Genie verbirgt, als dieser nebenbei den „Rubik’s Cube“ knackt und alle Farben dieses Spielzeug-Denkwürfels in die richtige Ordnung bringt.

Nóis Wahrnehmung und somit der Film selbst sind poetisch verspielt, und die Indizien des Spiels ließen sich unendlich fortführen. Da ist zum einen die Großmutter an ihrem riesig großen Puzzle, beim Nähen, oder wenn sie wie eine Marionette nach den Gymnastikübungen aus dem Radio tanzt oder ihr Geschenk, das sie Nói zum Geburtstag macht, ein Kinderspielzeug, durch das man hindurchblickt, um ein Dia eines Indianers wie aus dem Bilderbuch zu sehen oder ein Strandbild mit Palmen, Sonne und Meer. Dann ahnt man, welche Sehnsüchte und Wunschbilder Nói erträumt.

Im gleichen Zug ist das Spiel des Vaters die Musik, und so elegisch wie treffend gibt er in der Karaokebar Mac Davis‘ „In The Ghetto“ zum Besten. Als er seinem Sohn einen Job als Totengräber beschafft, ist Nói so keck, mit dem Pfarrer wie auf einem Basar um die Tiefe der Löcher im vereisten Boden zu feilschen. Und ebenso verspielt liest ein Wahrsager Nói die Zukunft aus dem Kaffeesatz, die nur „Tod und Verderben“ bereithalte. Er wünscht sich, auszubrechen aus diesem erdrückenden Nest zusammen mit der jungen Íris (Elín Hansdóttir), die aus der Stadt aufs Land gezogen und nicht mehr willig ist, ein neues Risiko einzugehen. So muss der Eigenbrödler allein seinem Herzen folgen, und der frappante Befreiungsschlag erfolgt so tragisch wie hoffnungsvoll.

Mit lakonischer Gestik und pittoresker Bildsprache erzählt Kári ein melancholisches Märchen voller Witz und Traurigkeit, das sympathisiert mit dem Anderssein. Ein inspirierendes, beglückendes Kinoerlebnis, das im Trend des isländischen Films neue Akzente setzt.

The Poet

Weniger geglückt ist dagegen The Poet unter der Regie von Paul Hills, der sich zwar ebenfalls der spannenden Problematik des Gefangenseins annimmt, sich jedoch so überambitioniert aufnötigt, dass er umso tiefer fällt und mit Abstand zum wohl schlechtesten Film der Filmmesse avancierte.The Poet beginnt überladen mit einer undurchsichtigen und für den späteren Verlauf überflüssigen Kriminalgeschichte und einer blassen Skizzierung eines jungen Künstlers, bis man langsam unwillig versteht, dass der Film letztlich wohl eine ähnliche Mixtur aus Thriller und einfühlsamen Killerportrait entwerfen möchte wie sein offensichtliches Vorbild Léon – der Profi von Luc Besson. Die Liebesgeschichte spielt sich zwischen dem russischen Profikiller Andrej (Dougray Scott) und Paula (Laura Harring) ab, der Schwester des Künstlers, der zuvor versehentlich vom Killer getötet wurde. Die verzwickte Affäre, in der der Andrej seinen Mord und Beruf vor Paula verheimlicht, spitzt sich nach und nach zu als ihm der Kommissar Vashon (Jürgen Prochnow) zwar etwas trottelig, aber zuverlässig wie Derrick auf die Schliche kommt und zudem die leidenschaftlichen Diskussionen zwischen dem Liebespärchen das innere Ausmaß der Zerrissenheit Andrejs entblößen.

Die Einsamkeit des Tötens habe ihn gefangen genommen, nun jedoch ist sein sehnlichster Wunsch, mit ihr eine Ehe nach kleinbürgerlichen Idealen und philosophischem Anstrich zu führen. Er erzählt ihr seine Lebensgeschichte, wonach er in Russland bereits als Kind seine Eltern verloren habe und ein Priester ihm Philosophie und Schach lehrte. Deshalb nenne man ihn den Poeten, was sich im Weiteren wie vieles andere auch als völlig irrelevantes Dekor des Films enttarnt. Seine Geliebte führt die geerbte philosophische Buchhandlung fort, und deshalb sind sie sich wohl auch so nah, wenn er ihr ins Ohr flüstert: „Philosophie begreifen heißt den Tod begreifen.“ Auf diesem Niveau verharren diese und andere mysteriöse Schnulzen philosophischer Fassade und werden dennoch bis ans Ende des Films hindurch geschleppt.

In stilisierter Ästhetik driften die Bilder und Handlung ab ins Groteske, obwohl der Film kein bisschen Selbstironie aufweist, sondern versteift an die Ernsthaftigkeit seiner Darstellung festhält. Dies mündet in einem seiner vielen unvergesslichen Höhepunkte zum Beispiel, als das Pärchen einen Urlaub in den Bergen antritt und das Glück in dem Moment perfekt zu sein scheint, als im Hintergrund der Blockhütte Gebirgsziegengeweihe an der Wand erstrahlen, oder wenn Andrej und Paula sich wieder einmal zögerlich begegnen und so unverhofft plötzlich leidenschaftlich über sich herfallen, während eine triefende Popschnulze den Kitsch ins Unermessliche steigert. Lange zeigte das geduldige Publikum Nachsicht bis es sich bei all der Zumutung nicht mehr scheute, trotz des anwesenden Verleihers seine Belustigung zu äußern – spottend, grölend und lachend. Aber wen anderes hatte der Verleiher im Sinn gehabt, als er eingangs zögerlich äußerte, dass er nicht wisse, ob dieses Publikum die richtige Klientel sei?

Die Invasion der Barbaren

Noch unterhaltsamer war Denys Arcands jüngster Film, doch während sich The Poet jedweden Humor verbietet und damit oberflächlich in sich zusammenbricht, verortet sich Die Invasion der Barbaren von vornherein als Komödie, entwickelt daraus aber eine tiefgründige Familienerzählung mit Reflexionen über die Weltgeschichte, was ihn zu einem packenden Meisterwerk und der großen Überraschung der Filmmesse machte. Bereits in Cannes wurde er umjubelt und mit zwei goldenen Palmen bedacht – für die beste Darstellerin (Marie Josée Croze) und für das beste Drehbuch. Noch einmal versammelt der kanadische Regiezauberer Arcand das Ensemble aus seinem Erfolgsfilm Der Untergang des amerikanischen Imperiums aus dem Jahr 1986, behält die neurotisch sexbesessenen Charaktere zwar bei, lässt sie aber auch gereifter erscheinen und erzählt dennoch keine unmittelbare Fortsetzung.

Rémy (Rémy Girard), der ehemalige Geschichtsprofessor und leidenschaftliche Sozialist liegt im Sterbebett, während er sich wünscht noch einmal seine engsten Freunde und Verwandten um sich herum zu versammeln. Dies erscheint zunächst schwieriger als erwartet, denn der Lebemann hat sich durch unendliche Frauengeschichten nicht nur eine Scheidung zugezogen, sondern auch Feinde verschafft. Der ärgste darunter ist sein Yuppie-Sohn Sébastien (Stéphane Rousseau), den er „Prinz der Barbaren“ nennt. Dieser wird in seiner Fähigkeit als Manager seinem Vater doch noch einmal ein bisschen näher kommen. Er ruft die Freunde und Ex-Geliebten aus der ganzen Welt herbei und verschafft ihm ein prunkvolles Zimmer im Hospital, eine schmerzlindernde, tägliche Dosis Heroin und eine Reihe anderer Annehmlichkeiten, die ihm einen entspannten Abgang bereiten. Immer wieder blüht die Feindschaft zwischen Vater und Sohn auf, und noch einmal schwelgt Rémy mit seinen Kampfgenossen in alten Erinnerungen über Affären und politische Überzeugungen.

Arcand entwickelt ein spannendes, intellektuell humoristisches Wortkino mit grandiosen Schauspielern, in dem stets auch eine Traurigkeit und die Wehmut über verlorene Lebensideale mitschwingen. Er setzt sich damit auseinander über den einfühlsam beschriebenen Generationenkonflikt und über provokante Äußerungen Rémys über die Weltgeschichte. Bereits in dem Vorgänger-Film wollte er „der Idee Ausdruck verleihen, dass wir in einer Zivilisation leben, die ihrem Untergang entgegengeht. Mit Menschen, die rettungslos in ihrem Privatleben und in ihren Liebesaffären verstrickt sind“, so Arcand. Die Invasion der Barbaren sei eine Metapher für den Angriff auf das amerikanische „Imperium“ während seines Verfalls. Die Invasionen seien die illegale Einwanderung, der unkontrollierbare Handel mit Drogen und ebenso der 11. September, dem in dem Film eine merkwürdig kurze Sequenz durch das Fernsehen gewidmet wird. Mit den absehbaren „heiligen“ Kriegen komme Rémy das alles einer Rückkehr ins Mittelalter gleich und er plädiert, in solch finsteren Zeiten solle man seine Manuskripte retten in der Hoffnung auf eine erneute Renaissance in der Zukunft.

Welche Beziehung Arcand tatsächlich zwischen seinen Figuren und historischen Weltvorstellungen zu entwerfen vermag und mit welcher Konsequenz er damit eine Moral formuliert, bleibt im Einzelnen zu untersuchen. Offensichtlich ist aber auch, dass Arcand mehr daran gelegen ist, Diskussionen zu entfachen, statt fertige Konzepte zu verordnen. Zumindest fordert der Film heraus, dies und die historischen Dimensionen hat er mit The Tulse Luper Suitcases gemein, aber im Gegensatz dazu ist Die Invasion der Barbaren mindestens ebenso großes Kino, das zu alledem auch noch köstlich und berührend unterhält und darin lange nachwirkt.

Dennoch scheint auch dieser Film auf den Gedanken einer Gefangenschaft zu basieren, die der Erzähler in Greenaways Film formuliert. Auf Rémy scheinen alle Formen des Gefangenseins zuzutreffen: Er hängt an seiner Ex-Frau ebenso wie den Ex-Geliebten, er ist besessen von Sex, und verfällt in seinen letzten Lebenstagen nur noch den Erinnerungen. Vielleicht sind seine Idee der Invasion der Barbaren und damit wohl auch seine Antipathie gegenüber seinem Sohn, dem „Prinzen der Barbaren“, ebenso ein Gefängnis, das eine Verständigung unmöglich macht und Annährungsversuche zerschlägt. Dennoch scheint auch ihm dieses Gefängnis eine Freude zu bereiten, die ihm zwar nicht vom Tode abhält, aber die Kunst seiner Lebensfreude bis ans Ende inspiriert. Kunst bedarf vielleicht immer des Gefangenseins. Vielleicht ist aber auch alles ja nur eine Frage der Geschichtsschreibung.

3. Leipziger Filmmesse

8. – 12. September 2003


The Tulse Luper Suitcases – Part I: The Moab Story
Großbritanien/Spanien/Italien/Luxemburg/Niederlande/Russland/Ungarn 2003, 127 min
Regie + Buch: Peter Greenaway
Kamera: Reinier van Brummelen
Darsteller: J.J. Feild, Richard Pask, Drew Mulligan

Rachida
Algerien/Frankreich 2002, 100 min
Regie + Buch: Yamina Bachir Chouikh
Kamera: Mustapha Belmihoub
Darsteller: I. Djouadi, Bahia Rachedi


Nói Albinói
Island 2003, 93 min
Regie: Dagur Kári
Darsteller: Tómas Lemarquis, Pröstur Leó Gunnarsson, Elín Hansdóttir
Kinostart: 27.11.2003


The Poet
BRD/Österreich/Großbritannien 2003, 100 Min
Regie: Paul Hills
Drehbuch: Robert Hammond, Barbara Jago, Emil Meyer, Leslie Ann Proctor
Kamera: Roger Bonnici
Darsteller: Dougray Scott, Laura Elena Harring, Jürgen Prochnow
Kinostart: 20.11.2003


Die Invasion der Barbaren / Les Invasions Barbares
Kanada 2003, 99 min
Regie + Buch: Denys Arcand
Darsteller: Rémy Girard, Stéphane Rousseau, Marie Josée Croze, Dorothée Berryman, Louise Portal, Dominique Michel
Kinostart: 27.11.2003

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