Ein wahrhafter Thriller

Dirigent Howard Arman bricht eine Lanze für Komponist Bohuslav Martinu

Dem tschechischen Kosmopoliten Bohuslav Martinu begegnet man in deutschen Konzertsälen vorrangig auf kleinformatigen Kammermusikabenden. Vor gar nicht allzu langer Zeit galt der Komponist mit dem (im Internet leider nicht sichtbar zu machenden) lustigen Kringel über dem „u“ als notorischer Vielschreiber, der netten Neoklassizismus mit böhmischer Gewürzmischung sowie eine unüberschaubare Flut an Konzerten in allen möglichen Besetzungen produziert hat und schon aufgrund der schieren Masse seines Oeuvres nie so richtig für voll genommen worden ist. Doch gerade nach einigen höchst erfolgreichen Neuinszenierungen seiner musiktheatralischen Werke ist die Wahrscheinlichkeit, eine Martinu-Aufführung erleben zu können, leicht gestiegen. Dennoch – keine alltägliche Angelegenheit, und dass sich Howard Arman gleich zwei Hauptwerke Martinus vorgenommen hat, ist eine echte Rarität.

Das Doppelkonzert ist ein wahrhafter Thriller. Ein Blick durch die Reihen genügt, um festzustellen, dass sich viele Besucher festhalten und gespannt verfolgen, wie es denn weitergehen mag. Untrüglicher Indikator für ein wahrhaft interessiertes und freudig überraschtes Publikum ist die beinahe vollständige Abwesenheit der rituellen Atemwegsreinigung zwischen den Sätzen.

Martinu, der mehr als zehn Jahre zuvor ein Ballett über das Fußballspiel (!) geschaffen hat, lässt im „Doppelkonzert“ keine Spieler, sondern zwei reich besetzte Streichorchester gegeneinander antreten. Und tatsächlich liegt die Metapher eines spannenden Spiels nicht fern. Die Kontrahenten laufen, machen Druck, fechten Zweikämpfe aus und übertrumpfen sich gegenseitig in drei „Halbzeiten“ zu etwa acht Minuten. Doch angesichts Martinus höchst mitteilsamer Musik (die freilich ohne jedes Programm auskommt) ist wohl auch dem Letzten klar, dass es hier um mehr als einen sportlichen Wettkampf gehen dürfte. Streit, blinder Zorn, Verhandlung, Kompromiss und Trauer – und immer wieder lässt Martinu die Orchester wie zwei defekte Uhrwerke, beide auf ihrer Genauigkeit bestehend, in absurden Rhythmen aufeinander prallen und beschwört so regelmäßig eine musikalische Katastrophe herauf.

Die sparsamen, jedoch brutalen Einwürfe der Solopauke bringen die Parteien mit Gewalt auseinander. Dazu fährt Martinu ein atemberaubendes Arsenal kontrapunktischer Künste auf; meisterhaft hat er die komplexe Besetzung im kompositorischen Griff. Eine grimmige, unwiderstehlich mitreißende Musik, spannend wie ein Hitchcock, die nach den Momenten der höchsten Aggression bisweilen zu kollabieren scheint und den Blick freigibt auf eine hintergründige Klangwelt voller Trauer und Bitterkeit. Während Martinu im Jahre 1938 an der Vollendung des Konzertes arbeitete, bahnte sich vor und hinter den Grenzen der Tschechoslowakei eine Katastrophe an. Im Falle des „Doppelkonzerts“ ist dies nicht der banale biographische Kurzschluss, als den man ihn böswillig lesen könnte.

In noch stärkerem Maße gilt dies auch für die „Feldmesse“ (1939). Hier ist der Anlass direkt greifbar. Für den Männerchor und die Musikkapelle eines Freiwilligenkorps des tschechoslowakischen Widerstandes schuf Martinu ein Werk, das man getrost zu den bedeutendsten Kompositionen des 20. Jahrhunderts rechnen darf. Martinu vertont keineswegs den liturgischen Messtext, sondern verwendet eine von einem Freund geschaffene Vorlage – aus Bibelstellen und eigener Dichtung zusammengestellt, in ihrer Überlegtheit und weltlichen Bedeutung dem „Deutschen Requiem“ von Brahms durchaus verwandt. Not, Wut, Fürbitte und Trost – was aus der liturgischen Messe übernommen ist, wirkt hier als verzweifelter Schrei, als Stoßseufzer, nicht als religiöse Kontemplation.

Was Martinu aus der eher schmalen Besetzung herausholt, grenzt an ein Wunder, wenn es nicht eins ist. Schließt man die Augen, hat man stets einen vollen, monumentalen Orchesterklang in den Ohren. Das alles nur mit Flöten, Klarinetten, Posaunen und Trompeten, Klavier, Harmonium und einer Wagenladung von Pauken, Glocken, Glockenspielen, Trommeln und Becken, die von sechs Perkussionisten in Gang gesetzt werden. Elemente der slawischen Liturgie verbinden sich mit polytonalen Experimenten und einer hochindividuellen Instrumentation zu einer überaus persönlichen Tonsprache, die ihresgleichen nicht hat. Als die drei Marschtrommeln im Fortissimo plötzlich von einer schwer einzuordnenden leisen Klangmischung aus Harmonium, Klarinetten und Glocken überlagert werden, scheint der Raum zu erstarren. Vratislav Kriz vom Prager Nationaltheater singt die Baritonpartie mit einer atemberaubenden Mischung aus Kraft und Fragilität, der Chor beherrscht alle Register von Resignation bis hin zu verzweifelter Hoffnung.

Als Arman mit Chor und Orchester endlich gehen darf, begeben sich einige Besucher zügig zur Garderobe. Hinterher und heimlich gelauscht: „Schöner kann’s jetzt nicht mehr werden“, murmelt ein Herr, setzt sich den Hut auf und geht. Der Versuch, im Gewandhaus-Shop einer Martinu-CD habhaft zu werden, scheitert an einer Menschentraube mit der gleichen Idee. Irgendwie ist das Konzert zu Ende – und die Aussicht auf Haydns „Nelsonmesse“ wie eine Einladung zu einem viel zu üppigen Nachtisch. Doch wollen wir dem alten Haydn nicht Unrecht tun.

Die „Feldmesse“ von 1939 mit Haydns „Messe in Not und Bedrängnis“ von 1798 zu kombinieren, ist in der Tat ein gewagter Schachzug, vergleichbar mit Michael Gielens Gegenüberstellung des „Überlebenden aus Warschau“ mit Beethovens Neunter. Der kristallklare Orchesterklang, die weitgehend guten Solisten und der herrliche Chor wirkten im Kontrast regelrecht verstörend. Zu ergreifend, zu aktuell mag Martinus Werk gewesen sein.

So blieb zunächst, die Haydn-Messe zu bewundern wie ein Meisterwerk im Museum, ein echter Klassiker, vollendet gearbeitet von einem Komponisten, der sich schon lange nichts mehr beweisen musste. Doch durch die unmittelbare Konfrontation mit der „Feldmesse“ wird Haydns Messe in ein neues Licht gerückt: Die Molltonart, die scharf kontrastierenden Chorausbrüche gewinnen völlig neue Konturen und niemand dürfte die Fanfaren des „Benedictus“ mit Sieges-Trara verwechselt haben. Durch diese Brechung erzielt Arman einen eigentümlichen Effekt – die „Nelsonmesse“ erscheint wie aus einer zeitlich weiten Entfernung. Dass der Klassiker stets „zugänglicher“ und „zeitloser“ ist, wird damit als Illusion entlarvt – das Hauptwerk zumindest dieses Abends war unmissverständlich schon in der“ ersten Hälfte erklungen.

Wer beim Lesen dieser Zeilen Lust auf Martinu und Haydn bekommen hat, dem kann geholfen werden. Am 24. Oktober 2003 wird das Konzert ab 20.00 in der Reihe „le concert“ im Programm von MDR Kultur gesendet. Und wer ein Stückchen Wegs nicht scheut: Das Konzert wird am 11. November 2003 um 19.30 Uhr in der Händel-Halle zu Halle, sowie am 12. November in der Weimarhalle in, nun, Weimar, ebenfalls um 19.30 Uhr, wiederholt.

Bohuslav Martinu: Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken
Bohuslav Martinu: Polní Mše (Feldmesse) für Bariton, Männerchor und Orchester
Joseph Haydn: Missa in Angustiis Hob. XXII:11 („Nelsonmesse“)

MDR Sinfonieorchester und Rundfunkchor
Elena Kashdan, Klavier
Vratislav Kriz, Bariton
Natasha Marsh, Sopran
Annely Peebo, Alt
Jan Kobow, Tenor
Wolf Matthias Friedrich, Bass

Howard Arman, Leitung

Sonntag, 19. 10. 2003, 20.00 Uhr, Gewandhaus, Großer Saal

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