Viel hilft viel?

Riccardo Chailly dirigiert Schönberg und Brahms im Gewandhaus

Riccardo Chaillys Auftritte in Leipzig begeistern das Publikum immer wieder aufs Höchste. Das jüngste Gastspiel des zukünftigen Gewandhauskapellmeisters rechtfertigte jedoch – so meine Meinung – den überschwänglichen Jubel nicht. Das Programm bot mit zwei frühen Werken Arnold Schönbergs gemäßigt Neues, um dann mit Brahms‘ Erster eines der bekanntesten und beliebtesten Highlights des sinfonischen Repertoires aufzufahren – Applaus vorprogrammiert.

Offenbar ist Chailly sehr daran gelegen, Brahms‘ sinfonischen Erstling auf eine ganz neue Art anzugehen, und es ist durchaus erfreulich, dass er sich nicht auf den üblichen ausgetretenen Pfaden bewegt. Allerdings ist nicht alles Ungewohnte überzeugend und angemessen. Schon zu Beginn schlägt Chailly ein enormes Tempo an. Ohne abzuwarten, bis die Musiker, geschweige denn das Publikum, sich gesammelt haben, stürzt er sich ins Geschehen und lässt kaum einen Moment lang daran zweifeln, worauf seine Interpretation zielt: Energie, Rhythmus, Dramatik. Aber: allzu viele Schönheiten der Partitur werden gnadenlos übergangen und subtile dramaturgische Steigerungen gehen dadurch verloren, dass sich der dramatische Impetus des Dirigenten kaum einmal etwas mäßigt. So wird das wunderbare Seitenthema des ersten Satzes zur unbedeutenden Episode, die man nur gleichsam im Vorbeifahren erlebt, und so manches interessante Detail sieht man nur noch im Rückspiegel vergeblich winken. Chaillys Deutung mag relativ neu sein, aber sie ist vor allem eines: einseitig.

Die Mittelsätze wissen im Vergleich zum Kopfsatz sehr wohl zu überzeugen, woran vor allem die hervorragenden Soli der Bläser ihren Anteil haben. Doch auch Chailly lässt hier der Musik mehr Raum zur Entfaltung und differenziert auf überzeugende Weise dynamische und klangliche Abstufungen – eine Vorgehensweise, die auch den Rahmensätzen gut getan hätte.

Im Schlusssatz verfällt Chailly nämlich wieder in jenen übertriebenen Aktionismus, der die Musik vieler Schönheiten beraubt. Manche Details sind schlichtweg nicht mehr zu hören, einige Passagen büßen massiv an Wirkung ein (so z. B. das retardierende Moment gegen Ende des Satzes, wo das „Choralthema“ ein letztes Mal erklingt). Mag es demnach also zutreffen, dass man Brahms am Augustusplatz bisher nicht so gehört hat, dann kann ich für meinen Teil nur hinzufügen: zum Glück.

An diesem negativen Eindruck ändert auch die ansprechende Darbietung der beiden Schönberg-Werke im ersten Teil des Konzerts nicht viel. Sicher, das „Notturno für Streicher und Harfe“ und die „Verklärte Nacht“ sind von großem Reiz; leider fehlt es aber auch hier bisweilen an der nötigen Sensibilität. Besonders der Schluss des letzteren Werks gelingt nicht so zart, wie man es bei anderen Gelegenheiten erleben kann.

Arnold Schönberg: Notturno für Streicher und Harfe
Verklärte Nacht op. 4 (Fassung für Streichorchester)Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68

Gewandhausorchester
Dirigent: Riccardo Chailly

22. Januar 2004, Gewandhaus, Großer Saal

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