Leben wie siamesische Zwillinge

„Montags in der Sonne”, ein Film von Fernando León de Aranoa

Luis Tosar, Javier Bardem (Bilder: Verleih)

Geblieben ist von „Lady Espagna“ nicht mehr als ein alter Dampfer. Der Name, der vom verflogenen Glanz eines Landes verkündet, schimmert jämmerlich blass am Heck der einst prachtvollen Personenfähre, von der nicht mehr übrig ist als ein trostlos schipperndes Stück aus Stahl und Farbe. Die Zeiten ändern sich, die Gewohnheiten bleiben. Werktags trug sie einst muntere Werftarbeiter auf ihrem Deck, werktags nimmt sie heute trübe Gesichter huckepack, schwimmt mit ihnen unter der Sonne durch das Hafenwasser der Bucht von Vigo. Ein kleiner Hauch von Reise weht in die Gesichter, ein Geschmack von Südsee, von Australien, von Einigkeit und Zufriedenheit. Aber das Ziel der Reise ist längst nicht mehr sicher. Die Werften sind Ruinen, die Menschen ohne Arbeit, ohne Aussicht und ohne Hoffnung. Nur das mild wankende Wasser besänftigt die Sorgen des Festlands, der grauen Stadt am Meer. Mit intimen Portraits seiner Protagonisten entwirft Fernando León de Aranoa in Montags in der Sonne meisterlich ein allegorisches Stimmungsbild, das nachdenklich macht.

An Bord der Fähre ist Santa, ein Mann von störrischem Charakter, an dem die Aussichtslosigkeit wie an einem Fels abzuprellen scheint – einzigartig gespielt Javier Bardem, der als Bärtiger kaum wiederzuerkennen ist als der Künstler in Before Night Falls. Er ist der Komiker und das sture, frech-dreiste Schlitzohr, der wütend aggressive Aufständische und der beherzt lachende Kumpel, der Verführer, der Frauenheld und manchmal auch der Traurige und Erschütterte – und doch gekennzeichnet von einem steten leicht ironischen Blick und einem würdevollen, aufrechten Gang. Vor Gericht muss sich Santa rechtfertigen für eine Straßenlaterne, die bei einem Wutanfall zu Schaden gekommen ist, als mit ihm Hunderte Arbeiter gegen die Schließung ihrer Werft auf die Barrikaden gegangen sind; die Laterne habe ihm eben im Weg gestanden. Nicht dabei gewesen waren damals Lino und Rico und mit ihnen achtzig andere, die bereits ein Jahr zuvor das sinkende Schiff, die marode Werft, verlassen hatten. Die Solidarität mit den Kollegen hatten sie aufgegeben für eine Abfindung von fünf Jahresgehältern. Fünf Jahre aber sind schon vergangen, als der Film beginnt und „Lady Espagna“ ablegt. Das Geld der meisten ist verbraucht, und so unterwirft sich Lino der Schikane, mit gefärbten Haaren gegen halb so junge Mitwerber um einen Bürojob zu konkurrieren, der ihm niemals das gleiche geborgene, identifikatorische Zuhause bieten könnte wie die Arbeit auf seiner alten Werft, die eben mehr war als bloß ein Job. Wenn sich Lino am Ende des Films auf Santas Rat besinnt, nicht zu vergessen, wer er ist, gewinnt auch er seine äußere Haltung zurück: den aufrechten Gang.

Bis dahin treffen sie sich noch viele Male mit den anderen alten Kollegen in Ricos Bar, wo sie diskutieren, streiten, spaßen und sich zerstreuen: José, mit knapp vierzig der Jüngste der Gruppe, der sich nur schwer damit abfindet, dass seine Frau Ana für das Familieneinkommen sorgt – täglich stehend in einer Fischfabrik. Sergej, der lakonische Witze-Erzähler, der in der Sowjetunion zum Kosmonauten ausgebildet wurde. Reina, der Objektschützer, der kostenlose Fußballabende auf dem Stadiondach ermöglicht. Und Amador, der zunehmend verwahrlosende Trinker, dessen Frau seit geraumer Zeit fort ist, wofür er auffällig abwiegelnde Begründungen heranzieht. Alle verbindet das gemeinsame Schicksal als arbeitslose Werftarbeiter. So sehr sie auch streiten, wissen sie die Vergewisserung ihrer Identität hier in der Bar: dem Ort des Kollektivs, der soziale Rettungsring. Montags in der Sonne ist ein Ensemblefilm von erstaunlicher Nähe zwischen Darstellern und ihren Figuren, die ebenso würdevoll agieren wie das Konzept der Kameraperspektive. Sie verzichtet auf Detailaufnahmen und bewegt sich in einer natürlichen Distanz, die dem Blickwinkel der Figuren entspricht. Nähe entsteht nicht durch Close-up, sondern Charaktere und Schauspiel, denen Fernando León in Drehbuch und Regie genug Platz für ein Eigenleben einräumt. Eine Darstellung und Erzählweise, die sich dem langsamen Rhythmus des In-den-Tag-Hineinlebens der Nicht-Arbeitenden angepasst hat und nur von der Zeit der ständig auftauchenden Uhren kontrastiert wird – nicht zuletzt durch die Wanduhr bei José, die rückwärts läuft. Dieser Rhythmus entzieht sich einer starren Dramaturgie. Er orientiert sich zuvörderst an seinen Figuren, mit denen er die Liebe des Zuschauers gewinnt, um ihn sodann im eleganten Erzählfluss hinfort zu tragen. Dabei passiert in der Handlung eigentlich nichts. Aber gerade dieses Nichtstun wird zum spannenden Erlebnis – durch subtile Situationskomik und Allegorien, die von Freundschaft, Mitgefühl und Solidarität erzählen wie Amadors Geschichte von den streitenden siamesischen Zwillingen, als er des Nachts zusammengebrochen auf der Straße liegt, und Santa ihm vergebens aufhelfen möchte: Diese Zwillinge sind zusammen in eine Welt geboren – wenn einer fällt, dann fallen beide. Erst in diesen Momenten setzt auch Musik ein – sanft und melodiös, niemals von falscher Sentimentalität und daran erinnernd, wie sehr das einfache Glück zum Greifen nahe ist.

Was uns in hastigen Schlagwort-Diskussionen um die Ohren gehauen wird von freien Märkten und Standortvorteilen, von Neoliberalismus-Kritik und sozialer Gerechtigkeit – manchmal scheint es uns den Blick zu verschleiern für das Schicksal des Einzelnen. Fernando León de Aranoa findet in Montags in der Sonne Worte und Bilder für die Geschichten jener, die an den Mechanismen der heutigen Zeit zerbrechen und drohen, überdies ihr Inneres, ihre Mitmenschlichkeit, den letzten Funken Menschsein, der Zertrümmerung preiszugeben. Aus einzelnen Fäden webt sich ein Bild des großen Ganzen von der Stimmung in der Hafenstadt Vigo im Norden der spanischen Atlantikküste, von der mentalen Verfasstheit des heutigen Spaniens wie auch Europas und aller Staaten, die sich den vermeintlichen Gesetzen unserer Zeit unterworfen haben. Mit einem Wort, Fernando León entwirft ein privates Bild zivilisatorischer Depression. Selten zuvor war politisches Kino warmherziger und schöner.

Montags in der Sonne
(los lunes al sol)

Spanien 2002, 113 min
Regie: Fernando León de Aranoa
Drehbuch: Fernando León de Aranoa, Ignacio del Moral
Kamera: Alfredo Mayo
Darsteller: Javier Bardem, Luis Tosar, Nieve de Medina, José Angel Egido

Schaubühne Lindenfels, 13. Juni 2004


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