Nicht von dieser Welt

das neue Album „Secret Migration“ ist das sechste Meisterwerk von der Band Mercury Rev

Es war einmal eine Gruppe, die weniger als Band, denn als kranker Scherz ambitionierter Filmstudenten aus Buffalo/USA begann. Irgend jemand mußte schließlich die Soundtracks zu den Abschlußarbeiten zusammenbraten und das nahm unser Kollektiv gleich selbst in die Hände und so gründete man eine Band, die sich auf der musikalischen Landkarte der 1990er jenseits der terra australis, in einem jener Gebiete, die, bleiben wir mal in der Metapher, von mittelalterlichen Kartographen mit allerlei seltsamen Wesen ausgemalt wurden – weil bisher noch niemand da war und von dort eher seltsames zu hören war. Ermutigt von ihrem Professor verlegten sie sich ganz aufs Musikmachen – wusste der würdige Akademiker, was er tat, als er unsere Helden geschickt von weiteren Filmversuchen abhielt? Vor dem pestartigen Aufkommen des „alternative rock“ waren die frühen Neunziger in den Staaten ein fruchtbarer Nährboden für alternative Rockmusik, und so schienen auch Mercury Rev, wie man sich nun nannte, eine Nische finden zu können. Danach taten sie eigentlich alles, um katastrophale Misserfolge verbuchen zu können und auch die Sterne müssen sich in einer ungünstigen Konstellation befunden haben (Plattenfirma pleite, Produzent tot und was dergleichen mehr ist). Für ihre Konzerte schrieben sie weder Setlists, noch wurden Stunden im Übungsraum für notwendig gehalten. Dazwischen allerhand Anekdotisches, das herkömmliche Bands schon längst in die ewigen Jagdgründe befördert hätte (Sänger will dem Gitarristen im Flieger ein Auge rausholen, Bassist gibt die Bandkasse für Ferien mit seiner Mutter aus…). So brachte man sich mit viel Mühe, viel Streit und viel Krach von Platte zu Platte durch. Und ständig und ohne Gnade Jonathan Donahues krähendes Organ, neben dem Pumuckl wie Pavarotti klingt. Immer wieder schien jedoch hinter den fröhlich-wüsten Experimenten mit verwunderlicher Frequenz ein geradezu geniales Verständnis für ungewöhnliche Sounds und Songs vom Allerfeinsten auf, wenn auch immer nur für Augenblicke, die schnell vorüber waren, denn wenn die Musik schön zu werden drohte, dann kam die Flex und machte alles wieder kurz und klein.

Der Wendepunkt der Erfolgsgeschichte, die mit „Hängen und Würgen“ treffend sich beschreiben ließe, ist auf das Jahr 1998 zu datieren. Es geschah aber, dass jene Band, denen auf dem Lollapalooza-Festival wg. Lautstärke kurzerhand der Saft abgedreht worden war, ein Album namens „Deserter’s Songs“ veröffentlichte und alles war anders. Man hatte sich für eine Weile in eine eingeschneite Hütte in den Bergen eingeschlossen, und als wollte man all das nachholen, was man sich nie gestattet hatte, kam dabei eine Dreiviertelstunde purer Schönheit heraus. Immer noch kauzig und verschroben, entdeckten Mercury Rev plötzlich die Schönheit der Melodie und gewandeten wunderbar elegische Kompositionen in ungewöhnliche Arrangements. Hammondorgel, Cembalo, Flöte, analoge Synthesizer und singende Säge wurden vom Staub befreit und mit der Rock-Besetzung zu einem verwunschenen Orchester verschmolzen. War das ein Versehen? Eine Art Scherz, bevor man wieder zum weiß rauschenden Tagwerk übergehen wollte?

Und jetzt „The Secret Migration“. Die Geheime Völkerwanderung. Das paßt. Etwas Gewaltiges geht vor sich, aber niemand merkt es oder weiß davon. Die Schwerpunkte des eigenen musikalischen Universums finden sich schon nach einmaligem Genuss dieser Musik nicht mehr da, wo sie bislang waren. „The Secret Migration“ hat mich doch tatsächlich den Tränen nahe gebracht, und zwar nicht mehr den Tränen des Zahnschmerzes, die ihre früheren Platten bei mir auslösten. Epische Größe mit ausschweifenden Gitarrentexturen, gleißende Steelgitarren, feingestrickte Klaviersätze, die, jawohl, Debussy und Satie heraufbeschwören und das alles getaucht in ein Bad aus glanzvoller Psychedelia. Für den Synästhetiker: „The Secret Migration“ ist Musik von sonnenhafter Leuchtkraft, dass sich auf der Netzhaut die seltsamsten Nachbilder mit abzeichnen. Durchweg Melodien, die man den ganzen Tag lang singen möchte. Sorgfältig orchestriert und handwerklich perfekt aufs Band gebannt. „The Secret Migration“ trieft vor Souveränität, Grandezza und Abenteuerlust, so sehr sich das auch ausschließen mag. Ganz, ganz weit weg von jenen Pony-Schnullis, die gerade viel Geld damit verdienen, Joy Division-Platten im U2-Sound nachzuspielen und sich dabei für Radiohead halten. Mercury Revs Musik klingt wie das, was sie ist – in langer Zeit erprobt, abgewogen, perfektioniert und für gut befunden. Im Hintergrund, fast unhörbar, schwingt diese Erfahrung immer mit, einzelne Töne verweisen auf jenes phantastisch-düstere Amerika, von dem wohl erstmals Edgar Allan Poe etwas ahnte und für dessen Formulierung in den Achtzigern David Lynch zuständig war. Wo, zum Teufel, ist diese Band, die ihre Songs immer so erfolgreich bekämpft hatte, gelandet? Jedenfalls ganz weit weg von dem, was Popmusik heutzutage alles so sein mag.

Mit Retro, Revival oder „The“-Bands hat das nicht im geringsten zu tun. Mercury Rev stricken an einer sehr individuellen Fantasie, die aus mindestens einhundertvierzig Jahren Musikgeschichte schöpft und sich doch stets wie eleganter, melancholischer Rock anhört. Keine Geigen, keine endlosen Prog-Rock-Solo-Klischees, sondern wieder dieses spezielle Mercury Rev-Orchester aus lauter Instrumenten, die schon seit den fifties in der Mottenkiste liegen. Und Käuzchen, Grillen, rauschender Regen in alten Bäumen – oder ist es doch nur eine Gitarre? Hört man hin, was da eigentlich gesungen wird, führt die Straße noch deutlicher ins Märchenland. „Look how the sun captured by the rain glimmers and falls“, heißt es im entzückenden „Diamonds“, einem Lied so zart wie ein Libellenflügel, ohne Strophe, ohne Refrain, dafür mit einem Schluss, der an einen nächtlichen Ausflug in Ravels „Tal der Glocken“ erinnert. Auch von weißen Pferden im Schwarzwald ist die Rede („If I was a white horse and offered you a ride through the black forest?“). Die fairytales werden manchmal durch allerhand schauerliches Beiwerk angeschrägt, aber diese gewissermaßen kindliche Atmosphäre bleibt von der ersten bis zur letzten Sekunde erhalten. Kindlich, nicht kindisch – es ist wohl diese grenzenlose Fähigkeit, zu staunen und auch noch den seltsamsten, banalsten Sound-Fund mit Phantasie in ein Kunstwerk verwandeln zu können.

„I’ll sell you my secret for a song“, singt Donahue gleich zu Beginn, doch ein einfaches Kochrezept kann es nicht sein. „Wie kommt man auf so was?“, wird sich nicht nur Rez. gefragt haben. Warum eine fröhlich blinkende Parodie auf das Electric Light Orchestra („Moving on“), die dazu nur etwa eine Minute dauert? Die untergründige thematische Verbindung zweier Songs („Diamonds“ und „Climbing Rose“), als sei der eine die geträumte Version des anderen? Auf der Single „In a funny way“ lassen Mercury Rev sich noch am besten erfassen. Donnernde Phil-Spector-Drums prallen auf sphärische Star-Trek-Vokalisen und die Gitarrenkunst des Herrn Grasshopper hält diesen potentiellen Hit zusammen, der wie einer jener Alpträume wirkt, die Brian Wilson in dunklen Zeiten geträumt haben muss. Der wunderbarste all dieser wunderbaren Momente ist „Arise“ – krachende Rickenbacker-Gitarren, Drums wie Pferdehufe auf der Jagd nach der schönen Prinzessin, fantastische Lyrics und ein Spannungsbogen, der niemals abreißt. Dauerbeschleunigung auf der Space-Autobahn, mit kurzer Atempause für ein mysteriöses Duett von Fender Rhodes und E-Bow. Das Schlussstück „Down poured the heavens“ ist eine hinreißendes Schlaflied…wenn da unter der Melodie, die auch von Johannes Brahms hätte sein können, nicht dieses abgrundtiefe Brummen wäre, als wälze sich etwas im Erdinnern umher, was doch bitte nicht aufwachen möge…

Jeder Song ist ein Kaleidoskop für sich, alles ist mit einer unendlichen Liebe zum Detail gebaut, dass Hieronymus Bosch seine Freude hätte. Die eine ganz spezielle Klaviernote, der eine Schlag auf die Röhrenglocke, der noch fehlte, die eine, kaum hörbare Gitarrenspur mehr, – diese Mühe ist jedem Song anzuhören. Sogar Jonathan Donahue hat sich auf richtigen Gesang besonnen, zwar immer noch in der Kategorie „die etwas andere Stimme“, doch immer mehr an einen höhergelegten John Lennon erinnernd. Dessen Geist suchte mehr als ein Stück auf diesem Album heim, besonders präsent ist er auf „First time mothers joy (flying). Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, der Meister hätte hier ein Wörtchen mitgeredet. Vielleicht hat er das auch, denn „The Secret Migration“ ist ganz entschieden nicht von dieser Welt.

Mercury Rev:
The Secret Migration

VÖ: 24. 1. 2005


Kommentar hinterlassen

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.