Das Programm macht die Musik

Solist Thomas Zehetmair und Dirigent Heinz Holliger geben zusammen das fünfte Rundfunkkonzert des MDR-Sinfonieorchesters

Mit Mut und Inspiration in der Programmgestaltung ist der MDR-Klangkörper dem Gewandhausorchester stetig und bestimmt davongelaufen; in der letzten Spielzeit sei beispielsweise an das feinsinnige Programm mit dem Konzert für Viola und Orchester von Sofia Gubaidulina und Franz Schmidts 3. Sinfonie erinnert, wo durch die Dramaturgie von Alt und Neu, Gewohntem und Ungewohntem musikalischer Appetit mehr als nur angeregt wurde. Das zahlt sich aus! Zum einem im für das Programm des diesmaligen Abends gut gefüllten Großen Saal des Gewandhauses, zum anderen in der selbstbewussten überregionalen Positionierung, hat doch eine Einspielung dieses Violinkonzertes am 24. Januar 2005 gerade den „Midem Classical Award“ für zeitgenössische Musik auf der internationalen Musikmesse „Midem“ in Cannes gewonnen. Dirigent der Einspielung auf der CD von ECM ist Heinz Holliger, Solist ist Thomas Zehetmair, beide musizieren am heutigen Abend auch in Leipzig Holligers Konzert. Zufall? Sicher zum Teil, ein Grund liegt wohl auch in der kontinuierlichen Beschäftigung mit zeitgenössischen Tendenzen und Entwicklungen, das wie selbstverständliche Zusammentreffen mit den originären Personen im Gewandhaus lässt einem müde lächeln über die in den letzten Tagen die Feuilletons beherrschende Diskussion um den Starkult auf der gerade zu Ende gegangenen Berlinale.

Zu Beginn Heinz Holliger als Interpret von Haydns letzter Londoner Sinfonie. Klar und bestimmt in der Führung des konzentriert agierenden MDR-Sinfonieorchesters lässt Holliger den Musikern im Detail freien Lauf, was diese engagiert nutzen. Überzeugend tritt Holliger im zweiten Satz nach dem dynamischen vorwärtstreibenden Allegro auf die Bremse. In einer zum Teil sehr eigenwilligen Interpretation des Tempos setzt er, im Zerlegen der Partitur ganz selbst Komponist, auf die dramaturgische Wirkung von Pausen, in der Stille können sich dann im Nachhall die feinsinnigen Motive Haydns voll entfalten. Im volksmusikhaften Finale steigert sich Holliger unakademisch in eine Art Ganzkörperdirigat, das Orchester versteht das gut. Verdienter ausgiebiger Applaus!

Der Bogen zu Béla Bartók spannt sich in der Suche nach musikalischen Quellen. Die Haydn inspirierende ungarische, tschechische und kroatische Folklore hat Bartók in langjähriger Feldforschung 150 Jahre später als sogenannte „Bauernmusik“ in seinem musikalischen Schaffen sublimiert. Doch wo Haydn die Anregungen in die klassische Ausgewogenheit integriert, nutzt sie Bartók, um aus dem damals zu eng empfundenen Korsett der Romantik auszubrechen. Auch überträgt Bartók nicht originäre Vorlagen, sondern erfindet im Wesen dieser Anregungen seine Motive neu. „In voller Blüte“ – der hinreißende erste Satz übersetzt Naturphänomene in klassische Musik. Die Streicher erzeugen das Rauschen des Windes, Bewegungen von Wasser, Bläser lassen Vögel zwitschern. Wo Holliger im ersten Satz die Streicher sehr im Zaume hält, so dass die Musik zum Teil etwas blechern klingt, kommt es im zweiten Satz zur direkten Auseinandersetzung der impressionistischen Flächen mit den derben Motiven der „Bauernmusik“.

Heinz Holliger wurde früh vom universellen Künstlertum seines Lehrers Pierre Boulez angesteckt; nach erfolgreicher Karriere als Oboist hat ihn seine Neugier schnell zum Dirigieren und Komponieren getrieben. In seinen Kompositionen beschäftigt er sich gern mit Künstlern, deren Schaffen sich oft am Rande der Existenz in hellsichtigem Wahnsinn manifestiert. Namen wie Hölderlin, Trakl, Walser oder Beckett führen eigentlich fast in zwingender Weise zum Schweizer Musiker und Maler Louis Soutter. Der Fin-de-Si?cle-Dandy Soutter, Schwiegersohn des berühmten Eug?ne Ysaye, lebenslang begleitet und gefördert vom ebenfalls verwandten Architekten Le Corbusier, endet nach allerlei künstlerischen und menschlichen Abenteuern zwangsweise mit 52 Jahren in einem Altersheim, wo er in einer Besessenheit beginnt, ein malerischen Vermächtnis aus Feder- und später Fingerzeichnungen zu schaffen, welches nach seiner Wiederentdeckung in den 1980er Jahren großen Einfluss auf Künstler wie Dubuffet, Rainer oder Penck ausgeübt hat.

Holligers Annäherung an Soutter erfolgt nicht assoziativ. In der Satzbezeichnung – Trauer, Obsession, Rückzug und Epilog – wird zwar noch Bezug genommen auf den Lebensweg, die musikalische Form aber ist autonom und unanekdotisch. Virtuos und selbstbewusst beginnt die Sologeige in einer Reihe motivischer Cluster. Gestrichene Harfe, Celesta, Marimbaphon neben den Ensemblefarben schaffen einen entrückten Raum für den Solopart. Im Aufspüren von subtilen Zusammenhängen in der Partitur entfaltet sich Zehetmairs Meisterschaft, in selbstvergessener Sicherheit steuert er durch die Überfülle an musikalischen Ausdruck bis sich die Musik am Ende regelrecht selbst verliert: Kratzen, Scharren, Brüllen, die Piccoloflöte bohrt sich gnadenlos ins Ohr.

Mit dem vorzeitigen Verlassen des Saales machen einige Besucher deutlich, dass sie nicht bereit sind, dieses heisere Brodeln 45 Minuten lang auszuhalten. In seiner kaum zu erfassenden Fülle ist Holligers Konzert natürlich nichts für zwischendurch, durch die verschwenderische Expressivität verliert sich die Wesenhaftigkeit des virtuosen Beginns auch leider zum Teil in einer interessanten Beliebigkeit, wie sie moderner Musik oft vorgehalten wird.

5. Rundfunkkonzert

MDR – Sinfonieorchester
Solist: Thomas Zehetmair, Violine
Dirigent: Heinz Holliger

Joseph Haydn: Sinfonie D-Dur HOB. I: 104 „Londoner“
Bela Bartók: Zwei Bilder für Orchester op. 10 ( SZ 46 )
Heinz Holliger: Konzert für Violine und Orchester „Hommage á Louis Soutter“

Joseph Haydn ( 1732 – 1809 )
Sinfonie D – Dur HOB. I: 104 „Londoner“
I. Adagio – Allegro
II. Andante
III. Menuet. Allegro
IV. Finale. Spiritoso

Bela Bartók ( 1881 – 1945 )
Zwei Bilder für Orchester op. 10 ( SZ 46 )
1. In voller Blüte ( Virágzás )
2. Dorftanz ( A falu tánca )

Heinz Holliger ( geb. 1939 )
Konzert für Violine und Orchester „Hommage á Louis Soutter“
I. Deuil
II. Obsession
III. Ombres
IV. Epilog

22. Februar 2005, Gewandhaus zu Leipzig, Großer Saal


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